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Heidelberger Lokalanzeiger: Neuer Heidelberger Anzeiger (27) — 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.43807#0663

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m Nuftrierte Sonntagsblatt“. Preis ZO Pfg., mit den Beis
lättern 40 Bfg. nonatlid. Dura die Loft vierteljährlich
1 ME, ohne Beftellgeld. }

28B. Jahrgang.
Druck und Verlag von G. Geiſendörfer.
Verantwortlich: Hd, Geifendöxfer,

- Nr. 165. Fernſprechanſchluß Nr. 621.










Donnerstag, den 18. Juli




Anzeigen: die I-[paltige Petitzeile vder deren Raum

20 Aies Lokale Geſchäfts und Privat-Anzeigen bedeutend

ermäßigt. Reklamen 40 Pfg. Für Aufnahme von Anzeigen

an beſtimmten Tagen wird nicht garantiert. Gratisverbreitung
durch Säulenanſchlag.









Fernſprechanſchluß Rr. 621. 1901.







Arbeitslöhne und Warenſchleuder.

Es giebt einen unlauteren Wettbewerb, der geſetzlich
Bisher nicht zu faſſen iſt, obgleich er ſozial viel ungünſtiger
wirkt, als manche geſchäftliche Gepflogenheiten, die ſeit
einigen Jahren ſtrafbar ſind und die der ehrenhafte Kauf—
mann verſchmäht. Der unlautere Wettbewerb, der Waren—
ſchleuder auf Koſten der Arbeitslöhne iſt eines der ſchlimmſten
Togialen Nebel. Dasfelbe fordert namentlich in der heutigen
Zeit des geſchäftlichen Niederganges die Aufmerkſamkeit
Heraus, Dboleich die Kriſe ihren Höhepunkt immer noch
xuüicht erreicht hat, fo macht fih in einzelnen Yndüftrie- |
weigen doch ſchon jetzt ein Warenſchleuder bemerkbar, der
Ü tn der Hauptſache nur auf Koften der Arbeitslöhne
durchfegen läßt.

‚In den vergangenen Yahren, in denen ein breiter
Goldftrom durch manche deutſche Induſtriebezirke gefloſſen
iſt, ſind die meiften Unternehmer zur erheblichen Bergrößer-
ung ihrer Betriebe gezwungen geweſen. Die Leiftungs-
fähigkelt iſt alſo heute faſt überall eine erheblich umfang-
keichere als vor etwa 10 Jahren. Aber auch die Schul—
denlajt ijt bei vielen Unternehmern größer. Denn zur
usdehnung des Betriebes waren natürlich auch ſolche
Yabrifanten gezwungen, die nicht ftarf bemittelt waren und
für Neubauten, Maijchinen uſw. einen erheblichen Kredit
m Anſpruch nehmen mußten. Vielfach konnte durch die
Verzögerte Lieferung der Maſchinen und durch andere
Schwierigkeiten, vielleicht auch durch eine irrige Schätzung
Ar Dauer des günſtigen Geſchäftsganges die teuere Neu—
richtung der Fabrik erft in einer Zeit ſtattfinden, in
er ſich bereits die Zeichen des gefchäftlichen Niederganges
Dun tiber machten. Die Aufträge wurden. Inapp, aber
2 großen finanziellen Verpflichtungen die aufgrund einer
limiſtiſchen Schätzung der Induſtrielage eingegangen
voaren, blieben und mußten erfüllt werden. Die unbe—
ahlten Maſchinen können nicht ſtillſtehen, ſie müſſen ver⸗
En Das Kann jedoch nur gefchehen, wenn reichlich
Sufträge vorhanden {ind, die. einen Gewinn Übrig laffen.
N der gegenwärtigen Zeit find aber in vielen Fndufjtrie-
oͤweigen umfangreiche Aufträge meiſtens nur zu erlangen,
wenn man den Mitbewerb in den Preiſen unterbietet. Je
Mehr die Krije ſich verfhärft um fo größeren Umfang
Pflegen diefe. Unterbietungen anzunehmen. Zwar bewirkt
On Zurückgehende Preis der Rohftoffe bereits eine Ver—
— Aligung der Wanre. Mber damit ift den Notleidenden
abrikanten nicht geholfen, da der Nohftoffmarkt auch die
Teije feiner Mitbewerber allgemein beeinflußt. Beſondere
. wo günftigere Bedingungen werden ihm umjo weniger
7 währt, da er oft nicht zu den guten Zahlern gehört und
) * Rohſtoffverbande meiſtens einheitliche Verkaufsbeding
ungen befolgen. Will er den Mitbewerb unterbieten, um
Aufträge an ſich zu reißen, ſo kann er das am leich—
Riten auf Koften der Arbeitslöhne. Das gejchieht auch
Wenwartig und einige der augenbliclid ſchwebenden



Streils find auf den VBerfuch, die Löhne zuguniten des
Warenſchleuders herabzudrücken, zurückzuführen. Wo ſtarke
Arbeiterorganiſationen mit ins Spiel kommen, oder andere
günſtige Umſtände obwalten, wird vielleicht ſelbſt in Kriſen—
zeiten ein ernſter Widerſtand geleiſtet. Meiſtens ſind je—


noch unter die in einem Erwerbszweige zur Zeit gültige
allgemeine Linie hinabzudrücken, erfolgreich

Es währt nicht lange und auch jene allgemeine Linie
ſinkt. Denn die auf Koften der Arbeitslöhne ihre Ware
plötzlich billiger verkaufenden Fabrikanten drücken auch den
allgemeinen Preis für eine beſtimmte Ware. Humane
und nach anſtändigen ſozialen Geſichtspunkten verfahrende
Unternehmer mögen ſich noch ſo energiſch ſträuben, ſchließ⸗
lich müſſen ſie dem Warenſchleuderer doch folgen, wenn
ſie Aufträge erhalten wollen oder ſie müſſen zugunſten der
Arbeitslöhne mit Verluſt arbeiten Vor einer Reihe von
Jahren traten dieſe Verhältniſſe in der ſächſiſchen Wirk—
wareninduſtrie ſehr jcharf bevor. Namentlich zahlreiche
kleine Fabrikanten hatten ſich einem Warenſchleuder er—


der Arbeitslöhne möglich war. Es handelte ſich dabei um
gänzlich unorganiſierte und auf das dürftigſte von der
Hand in den Mund lebende Strumpfwirker. Die großen
Ünternehmer der ſächſiſchen Wirkerei ſträubten [ich damals
lange Zeit, die Warenpreiſe auf Koſten der Arbeitslöhne
herabzuſetzen. Sie trugen ſelbſt erhebliche Verluſte. Aber
ſchließlich mußten auch ſie Verkürzungen der Löhne vor—
nehmen, um ihre Ware billiger verkaufen zu können und
durch die ſkrupelloſen Schleuderer nicht aus dem Geſchäft
gebrängt zu werden.
außerordentlich billige Strumpfmaren auf Koften der Lebens»
haltung ſächſiſcher Tertilarbeiter getragen. !

Wo ein derartiger Warenfchleuder einreißt, da findet
er ſchwer eine ©renze. Um {ih Aufträge zu verfhaffen,
geht der gewiffenloje Unternehmer mit feinen Preijen immer
tiefer als feine Mitbewerber. Er drüct mit jeder neuen
Preisvergünftigung die Arbeitslöhne ent/prechend herab. So
ſchneidet er ſkrupellos in lebendes Menſchenfleiſch hinein


werbszweiges Denn es iſt eine alte Erfahrung, daß ſtark
geſunkene Warenpreiſe ſelbſt in günſtiger Zeit ſich nur ſehr
ſchwer wieder ſteigern laſſen. Der Warenſchleuder in


lichen Aufſchwungs noch auf Jahre hinaus preis⸗ und
lohndrückend fort.

Ein ausreichendes Mittel zur Bekämpfung des Waren—
ſchleuders auf Koſten der Arbeitslöhne und der Arbeiter—
geſundheit giebt es zur Zeit nicht. Geſetzlich wird man


einzelnen Erwerbszweige nicht einen Mindeſtlohn feſtſetzen
will. Daran iſt jedoch vorläufig um ſo weniger zu denken,
da über die Möglichkeit und Zweckmäßigkeit derartiger


Lohnbeſtimmungen die Anſchanungen in der Wiſſenſchaft
wie in der geſchäftlichen Praxis noch weit auseinandergehen.
Sehr kräftig würden ſtarke Arbeitervereinigungen einem
derartigen Waarenſchleuder entgegenwirken können. Sie
würden damit zugleich im Intereſſe aller einſichtigen und
geſchäftlich nach ehrenhaften Grundſätzen verfahrenden Unter—
nehmer handeln. Aber in Zeiten der Kriſe reicht oft
ſelbſt der Einfluß der ſtärkſten Arbeiterorganiſation nicht
aus, ein auf Koſten der Arbeitslöhne den Mitbewerb
unterbietendes Geſchäft zu ſperren. Die Not treibt die
Arbeiter in ſolchen Zeiten dazu, ihre Kraft um jeden
Preis zu verkaufen. Selbſt die mächtigſten engliſchen
Gewerkvereine haben in dieſer Beziehung traurige Er—
fahrungen hinter ſich.

Es iſt ſicher bemerkenswert, daß dieſe Umſtände auch
deutſchen Unternehmerkreiſen den Gedanken nahelegen, man
müſſe aufhören die menſchliche Arbeitskraft als eine Waare
zu betrachten. In einer ſich gegen die Preisdrückerei auf
Koſten der Arbeitslöhne wendenden Bittſchrift an die
ſächſiſche Regierung ſpricht der „Arbeitgeberverband für
das Baugewerbe in Dresden“ dieſe Ueberzeugung aus
und fügt hinzu, nicht Angebot und Nachfrage, ſondern
das Bedürfnis der Arbeitenden müſſe den Sohn beſtimmen
Der Verband iſt der Meinung, daß man auch in Zeiten
wirtſchaftlichen Niedergangs den Lohn nur dann herab—
ſetzen ſoll, wenn er in guten Zeiten übermäßig in die
Höhe getrieben wurde. Dieſer Unternehmerverband will

ſtändigen Lebensführung ausreichen ſoll. Er nennt das
den Lohn auf eine feſte Grundlage ſtellen. Es verdient
Beachtung, daß der Verband zu dieſer Ueberzeugung gekommen
iſt, nachdem er wiederholt Kämpfe um den Arbeitsvertrag
mit einer ziemlich kräftigen Arbeiterorganiſation und mit
wechſelndem Erfolg durchgefochten hat. Der den Arbeitern
wohlwollende Sozialpolitiker kann mit den hier ausge—
ſprochenen Grundſätzen einverſtanden ſein. Der unlautere
Wettbewerb auf Koſten der Arbeitslöhne trifft Unternehmer
und Arbeiter gleich empfindlich. Es würde alſo durchaus
zweckentſprechend ſein, wenn beide mit vereinten Kräften
dieſem ſozialen Uebel entgegentreten wollten.

Deutſches Reich.

B.N Karlsruhe, 16. Juli. Die Zahl der Streikfälle
betrug nach der „Südd. Reichskorreſp im Großherzogtum
Baden im Jahre 1899: 21; die Höchſtzahl der gleich—
zeitig ſtreikenden Arbeiter betrug bei allen 21 Streiks
1050. Im Jahre 1900 betrug die Zahl der Streikfälle
im Großherzogtum 26; die Höchftzahl der Streifenden be-

trug bei jämtlidhen 26 Streits 1488, Ausfperrungen find
in den Jahren 1899 und 1900 im Großherzogtum nicht
vorgekommen. 2 I
— Berlin, 17. Juli. Der foeben hier eingetroffene
„Stuttg. Beobachter“ veröffentlicht die wichttgjten Zoll-





Des Bruders Braut,
; Roman aus der ruffiſchen Geſellſchaft von C. Golowin.
0er Genehmigung des Berfaffer8 überſetzt von A. Hauff.
(Fortſetzung)

Man kann ſich allerdings auch durch Arbeit
ober nicht er, Wjewolod. Nach dem Luxus, an den
e in den letzten Jahren gewöhnt, nach einem ſo

) ¶cerhaften Spiel um Reichtum, das ihm zum Bedürfnis

un war, in einem deutjchen oder ſchweizer iſchen

) Or tchen ein Philiſterleben führen und Groſchen um

© Un mühſam verdienen — heißt das Überhaupt

) Ko Drang nach Selbfterhaltung gelangte trotzdem

) Aust zu feinem Recht. Er machte den Berfuch, einen

) eiber te zu erlangen und erfundigte fi bei der Po—

. eines DOrde, ob man ihm einen Schein zur Erlangung

tr. Faſſes ausſtellen wolle. Allein das wurde ihm un-

mm weis auf die von ihm durch Unterſchrift übernom—

— wein, Serpflichtung, Petersburg nicht zu verlaffen, ver—
. St. So mar ihn auch diefer Ausweg abgefhnitten.

‚aber Siewolod hatte die Ablehnung freilich vorausseſehen,

u dennoch fein Mittel unverfucht lafjen wollen. Als

4 ne nwerrichteter Sache nach Hauſe zurückkehrte, ward er
9 daß der Kreis immer enger wurde, innerhalb deſſen

NO noch frei bewegen konnte.

2 öl Haufe fand er einen Brief von feinem
Mit. folgendem Inhalt: .




Verteidiger




„Ich ſchreibe Ihnen eiligſt vom Gericht aus. So-
eben habe ich erfahren, daß bereits Ihre abermalige
Verhaftung verfügt iſt. Ihr Bruder iſt freigelaſſen
Treffen Sie ſchleunigſt Ihre Maßregeln.“
Wſewolod lachte bitter auf.
Welche Maßregeln konnte er denn treffen? Aber zu
Einem war er feſt entſchloſſen: nicht wieder ins Gefängnis
zu gehen. Dieſes erſchien ihm jetzt noch ſchrecklicher und
ſchimpflicher, als bei ſeiner erſten Verhaftung. Wenn er
noch einmal in das Gefängnis geriet, lam er nicht wieder
heraus; davon war er überzeugt.
Seit. dem vorhergehenden Tage war Wiemolod nicht
mehr imftande zu Überlegen, wie er dem drohenden Ver
hängnis entgehen fönnte.
jagt, feit entfchlo{jen war, war, — {ich nicht wieder vers
haften zu laſſen. Dieſer Entſchluß ſtand feit dem Augen-
blid, wo Wera ihn verlaffen Hatte, bei ihm unerſchütter—
lich feft — und jegt wußte er auch, welcher Weg allein
ihm noch frei blieb. ) ' x
Er ſchloß einen altertümlichen Schrank von geſchnitztem
Eichenholz auf und nahm daraus ein längliches kleines
Käſtchen. Sorgfältig wiſchte er den Staub davon ab und
ſtellte es dann auf den Schreibtiſch.


betrachtete. ;
Er erinnerte fich, daß er [hon am Abend vorher beim
Leſen der Zeitungsnotiz über den Selbſtmord des Kaſſierers



Zögernd öffnete er das Kültchen. Lange betrachtete
‚er die darin liegende Pijtole und Ind fie. x
RPlöglich begannen feine Hände zu zittern. Bittere
Thränen entſtrömten unwillkürlich ſeinen Augen. Er warf
ſich auf den Divan und vergrub den Kopf in die Kiſſen
deſſelben.
Er weinte über ſich ſelbſt. Er bedauerte es, ſo aus
dem Leben ſcheiden zu müſſen; er war betrübt, daß ihm,
der noch ſo viel ſprudelnde Lebenskraft beſaß, der noch
alle Freuden des irdiſchen Daſeins ſo lebhaft zu ſchätzen
wußte, ein folches Ende befchieden war. ; .
Selbit daß Kummer und Schmerz ein Ende nehmen
follten, that ihm leid, — liegt doch in ihrem Borhanden-
ſein das Bewußtſein der Exiſtenz
Und was dann, — wenn die Piſtole ihr Werk gethan?
Wſewolod hatte ſeit ſeiner Kindheit wenig von Reli—
gion gehalten. Nicht, als ob er offen ſich als Ungläu—
biger gab, — dazır war er zu vorfichtig. „IH will mich
nicht mit dem Himmel verfeinden“, war hin und wieder
ſein Gedanke gewejen. „Aoer jest will ich mir den Kopf
nicht dariiber zerbrechen. Kommt Zeit, Kommt Kat.” —
Er meinte, wenn einmal die Jugend vorüber fet,
werde er ſich in der ſtreitigen Frage uͤber das künftige
Leben mit Muße entſcheiden können; bis dahin ließ ſie ihn
falt und gleichgiltig. RL
Aber jetzt, wo die Pforte für ihn offen ftand und die
Frage ‚eine fofortige Löfung verlangte, fand er nicht mehr
die Kraft, feine düfteren erregten Gedanken genügend zu



‚ordnen. Das einzige Gefühl, das ihn beherrichte, war
 
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