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Pfälzer Bote für Stadt und Land — 1871

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https://doi.org/10.11588/diglit.43884#0155

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yy
Trägerlohn und Poſtaufschlag. Inſ.-Geb. 2 kr. d. Z. für H tadt
Js. 39.



Deutſcl and.

* Heidelberg, 20. März. Nachdem nuumehr das deutſche
Reich hergestellt iſt, wird es sich fragen, welche Stellung die Natio-
nalliberalen in den innern Fragen einzunehmen geſonnen sind.
National iſt alle Welt in Deutſchland, wenige dus „Reich“ negirende
Principienreiter ausgenommen, die von Niemand mehr besonders
beachtet werden. Aber wie steht's mit dem Lib er al? Das wird
der Prüfstein sein, ob dieſe aus ſehr verſchiedenen Elementen zu-
sſammengewürfelle Partei itren compacten Zuſammenhang aufrecht
zu halten vermag oder ob nunmehr die Trennung vollzugsreif ge-
worden iſt. Uns ſcheint, daß letztere bereits begonnen hat; denn
im Reichstage sind ja ſchon mehrere namhafte Mitglieder zu der
neuen Reichs partei, die die abgethanen wie die künftigen Minister
in ihrer Mitte zählt, übergegangen, wie Roggenbach, M. Barth u. A.
Außerdem werden ja in den höchſten Regionen, wo man ſeine Leute
kennt, die ſüddeutſchen Nationalliberalen als viel manierlicher u. handtir-
licher bezeichnet, als ihre norddeutschen Parteigenoſſen, wie wir aus dem
Briefe des Herrn Biſchofs von Mainz an den Pfälzer Boten er-
fahren haben, und es iſt demnach anzunehmen, daß unsere Herrn
Kiefer, Eckhard, Lamey und Gen. alles aufbieten werden, um Herrn
Lasker und dessen norddeutsche Freunde in allen Fragen dem Für-
ſten - Reichskanzler gehorsſamſt zu Füßen zu legen. Daß man in
Berlin unsere Nationalliberalen kennt, dafür iſt ohne Zweifel aus-
giebig geſorgt worden, und da Se. Excellenz unser Stadaitsminiſter
Pr. Jolly in Berlin mit Bismarck verkehrt, ſo kommt uns das Lob
der Nordddeutſchen Allgemeinen Zeitung über die besſere Handtirlich-
keit der süddeutschen Nationalliberalen wie eine feine Jronie des
Ministers Jolly selbſt vor im leiſen Hinweis auf den Offenburger
Roman, bei welchem ein nahmhafter Bruchtheil jenes ſüddeutsſchen
Liberalismus eiue ſo handtirliche Rolle geſpielt hat. Ein Roman?
fragen die Leſer. Ja ein Raman , denn der Schluß eines jeden
Romanes dreht sich darum, ob er sie kriegt oder ob er sie nicht
kriegt, – Herr Jolly aber hat sie gekriegt. Wir würden uns
daher ſchon heute auf den Hochgenuß freuen, wie sie von Bismarck
werden gekriegt und nach Belieben handtirt werden, wenn Bismarck
überhaupt nur nöthig hätte, die hinterſte Reichs-Rumpelkammer mit
dieſem Mböbbel zu verstellen.

* Heidelberg, 29. März. Die Loyalität äußert sich oft auf
die verſchiedenſte Weiſe und wir haben nichts dagegen, wenn es so
oder so geſchieht, vorausgeſeßzt daß darin Maß und Ziel beobachtet
wird. Dies iſt nun aber längst nicht mehr der Fall, und alle halb-
wegs vernünftigen und nüchterndenkenden Leute sind angeekelt, wenn
ſie die miniſteriellen Blätter von der Karlsruher Ztg. bis zu irgend
einem Krähwinkler zur Hand nehmen und nun ſchon seit Wochen
nichts Anderes mehr leſen können als FJeſtgedichte, Festreden, Jn-
schriften, JÜuminationsbeschreibungen, Fahnendecorationen und dgl.
Dinge mehr. Daß die Reden dabei an Uebersſchwänglichkeiten nichts
zu wünschen übrig laſſen und daß die Gedichte ſo kläglich und ent-
ſetlich wie möglich sind, wie wir ſchon an Beiſpielen erläutert haben,
verſteht sich wohl am Rand, ~~ erbärmlich abgeſtandenes Zeug, das
dem Biere gleicht, das man über Nacht in offenem Glase stehen
laſſen und am folgenden Tage zum Genusse vorseßgen will. Es iſt
Zeit, meinen wir, daß man jett zur nüchternen Wirklichkeit zurück-
kehrt, und auf diesen Boden der realen Thatſachen hat sich denn
auch u. a. die „Warte“ gestellt, indem sie bei der Beendigung der
Festberichte die ganze französiſche Speiſekarte ihren gottſeligen Lesern
zum Besten gibt, welche bei dem diplomatiſchen Diner figurirte, das
Fürſt Bismarck anläßlich der Feier des kaiſerlichen Geburtstages ge-
geben hat. Es ist dies allerdings ein Fortschritt zu einer haus-
backeneren Art von Loyalität, als der bisherige Lärm des poetiſchen

und weinangesſäusſelten nationalliberalen Walhalla-Tempels ; aber

leider steckt auch in der französiſchea Speisekarte ein riesiges Stück
des neumodiſchen Byzantinismus , der vom Volke ein ſeliges Beha-
gen verlangt, wenn die Mittheilung kommt, daß die großen Herren

fein zu ſpeiſen geruht haven. Wir wenigstens glauben die „Warte“

versichern zu können, daß das Volk nicht die Zufriedenheit jenes ge-
müthlich lachenden Bauernjungen theilt, der auf die Frage, ob er
auch ſchon Kalbsbraten gegessen, zur Antwort gab : „Nein, aber
mein Bruder hat einmal einen eſſen sehen.“

* Heidelberg, 30. März. Wir machen die Herren Pfarrver-
weſer darauf aufmerkſam, das ~ H tige Bad. Landeszeitung auf



Samſtag den 1. April





halt der Annoncen-Expedi-

sera

Inseraten -In er An :
tionen von Rud. Mosse, Haasenstein&
und Ü and. VG er & G.. L. V sts & Cie. in

Stuttgart 2c.

1871.

nchen, Frankfurt



OO



das Maßlosſeſte über sie herfällt, sie „hungerig“ nennt, sie der „De-
nunciantendienſte" beschuldigt, ihnen Bettelei vorwirft und dgl. Lie-
benswürdigkeiten mehr. Die Vielgeprüften, wenn auch im Staats-
eramen nicht Geprüften, werden sich das ohne Zweifel merken. Un-
ser Correſpondent, der sich der Pfarrverweser, Capläne und Vicare
in Nr. 21 d. Bl.'s annahm , wird sogar ein „frecher Junge“ ge-
nannt, eine Injurie, die vor dem Richter offenbar ſtrafbar iſt. So
treiben's die Friedensapoſtel von Karlsruhe bis in die winzigsten
Amisſtädtchen hinein !

v Von der Bergstraße. Die Preßpeſt greift immer mehr um
sich und richtet täglich weit größern Schaden an als ihre geliebte
Zwillingſchweſter + die Schnapspeſt. Es iſt unbestritten, daß die
Schnapspeſt gewaltige Verheerungen unter dem Volke ber Jung nnd
Alt, Reich und Arm , Hoch und Nieder hervorbringt. Allein was
iſt die Branntwein - und Fuſelpeſt gegen die furchtbare Preßpest ?
Jenes Gift muß der Menſch erſt in gewiſſen Spelunken und Schnaps-
boutiquen aufsuchen und holen, dies bietet sich ihm an allen Stra-
ßenecken dar, ſchleicht ihm bis in die lezte Hütte nach. Jn aller
Frühe beim Kaffee präſentirt es sich als Frühstück zum Morgengenuß, am
Abende ist es die Zugabe zum Bier; es ſchleicht in alle Familien-
kreiſe, in alle Schlaf - und Ankleidezimmer, auf dem Studiertiſch des
Vaters und Sohnes, auf dem Nähtiſch der Mutter und Tochter um-
her; es findet ſich auf dem Ministertiſch, neben dem Brevir des
Dieners des Herrn und in der Taſche des Proletariers. Es wird
an Werktagen zur Erholungsſtunde, an Sonn- und Feiertagen als
eigentliche für diesen Tag bestimmte Nahrung eingenommen. Tag
für Tag alſo Gift in neuer Gestalt und doch immer dasselbe Gift.
So häuft sich Gift auf Gift im Körper der menſchlichen Geſellſchaft.
Sollen wir uns wundern, wenn dieſer Körper das Gift, wie die
Schweißtropfen in heißen Sommertagen von ſich gibt? Der Ab-
geordnete Lucas hat vor Jahren einmal die Preſſe „ein Stück moder-
ner Versſimplung“ genannt. Er hätte viel beſſer geſagt : ein Theil
unserer modernen Preſſe diene zur moraliſchen Corrumpirung und
Verpeſtung des Volkes. Warum das?

Die Lüge iſt sicherlich darnach angethan, den Menſchen sittlich
zu verderben und zu verpeſten + weshalb es ja unsere modernen
Zeitungsſchreiber den Franzoſen zum großen Verbrechen gegen die
öffentliche Moral anrechnen, daß sie in ihren Zeitungen ſo abſcheu-
lich lügen und das französſiſche Volk durch fortgeſetztes Lügen so
tief in's Elend gestürzt haben. Die deutschen und vor Allem die
badiſchen Preßknechte hätten es gar nicht nöthig über ihre französi-
schen Collegen mit allem Aufgebot „sittlicher Entrüſtung“ wegen der
gallischen Lügenmaier herzufahren. Sie treiben es accurat so, nur
in einer andern Richtung. Oder wird in einem Lande ,diesſeits
des Oceans“ das Handwerk ſyſtematiſcher und ſstärker betrie-
ben als in Baden? An Belegen fehlt es nicht. Wir wollen z. B.
nur zwei solcher ſehr ecclatanter Fälle berühren, die sich auf die un-
längst ſtattgehabten Reichstagswahlen bezogen haben. Jn der Bad.
Landeszeitung stand schwarz auf weiß, von Heidelberg aus berichtet :
es ſei in der Muſen- und JIntelligenzſtadtt am Neckar in Folge
bischöflichen Verbotes katholiſcherſeits auf den 4. März kein Friedens-
gottesdienſt gehalten worden. Hunderte in Heidelberg haben laut
ihre Entrüſtung über solche erbärmliche und niederträchtiche Entſtel-
lung einer offenkundigen Thatſache ausgedrückt. Nach einigen Ta-
gen mußte jenes Blatt in der beſchämendsten Weiſe widerrufen und
ihat es auf Kosten seines Correſpondenten, welchen es mahnte, in
Zukunft nur wahrheitsgetreue Artikel zu liefern und keine Lügen.
Das Blatt hätte nicht nöthig gehabt, auf Kosten seines Berichter-
ſtatters sich aus der Patſche zu ziehen, es hätte ſelbſt wiſſen können,
daß jener Artikel eine Unwahrheit enthält, weil einige Tage vorher schon
in Nr. 72 des Pfälzer Boten eine öffentliche Einladung zur Theil-
nahme am Gottesdienſt in der Hospitalkirche zu Heidelberg enthalten
war. Oder iſt die Abhaltung eines feierlichen Hochamtes mit Te
Deum vielleicht kein katholiſcher Gottesdienſt? Wenn nun trot ſol-
chen offenkundigen Thatſachen so heilloſe Lügen in die Welt hinaus-
geschleudert werden ~ heißt man das nicht das Volk um das edelstes
Gut – die Wahrheit + bringen und dadurch verpeſten uud sittlich
verderben? In einem andern gleichgesinnten Blatte, das in Heidel-
berg erscheint, war um dieselbe Zeit, von einem sog. Kübelschen
Wahlgottesdienſt die Rede, der allenthalben abgehalten worden ſei,
um ein günſtiges Wahlreſultat für den Reichstag zu erzielen. Wem
grauſelt es nicht, wenn er ſo etwas hört oder gar noch lieſt? Was
 
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