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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 5.1930

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Ein neuer Russenfilm
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https://doi.org/10.11588/diglit.13711#0042

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wie Fabrikkomitee, Arbeitsschutz usw. vorstellen.
Wir finden in dem Film eine Reihe von Episoden,
welche in dramatischer Form sehr wichtige und we-
sentliche Fragen der Gegenwart behandeln. „Ein
Bruchstück des Zarenreiches" wirft eine Menge aku-
ter, politischer Fragen auf.

Die Fragen des sozialistischen Aufbaus des Lan-
des, der Kultur, der Beziehungen zu der Produktion,
die Fragen der Arbeitsdisziplin, des sozialistischen
Wettstreites und endlich die ewigen gemeinmensch-
lichen Fragen der Liebe und Ehe sind alle mit dem
Grundthema, mit der Achse des Films verbunden.

Das Thema des Films ist sehr einfach: auf einer
weltvergessenen Eisenbahnstation im Steppenge-
biet dient als Hausknecht ein ehemaliger Unteroffi-
zier Filimonoff, der während des imperialistischen
Krieges wegen einer Kontusion sein Gedächtnis ein-
gebüßt hat. Züge fahren vorbei. Das Leben geht an
einem schlafenden Gedächtnis vorüber. Und un-
verhoffterweise sieht einmal Filimonoff im Fenster
eines Eisenbahnwagens ein bekanntes Gesicht. Die-
ses Gesicht gehörte einem Menschen, der ihm früher
nahe stand, ihm verwandt und gut bekannt war. Fili-
monoff möchte sich dessen klar erinnern, ist aber
nicht dazu imstande. Von der Gedächtnismaschine
sind nur klägliche Überbleibsel vorhanden und sogar
von diesen Resten kann den Ärmsten ein Zigaretten-
kästchen ablenken. Der Eisenbahnzug ist fort und
es passierte nichts Außergewöhnliches.

Filimonoff ist seinem früherem Berufe nach ein
Arbeiter der Trikotagenindustrie. Der Prozeß der Re-
konstruktion seines ganzen früheren Lebens ist mit
der Arbeit einer Nähmaschine verbunden. Der Lärm
der Nähmaschine erinnert an den Lärm, den ein
Maschinengewehr hervorruft. Ein Maschinengewehr,
die Kriegsfront .... In dem erloschenen Gedächtnis
sprühen Funken auf, Fetzen von Erinnerungen.

Die Kriegsfront, Scheinwerfer, Kruzifixe auf den
Feldern von Galizien und endlich ein Tank, ein
gleichmütiger Zyklop, der die Menschenkörper mit
einem Knistern zermalmt.

Jetzt hat sich Filimonoff endlich erinnert---- Er

springt in einen Viehwagen und fährt nach Lenin-
grad (für ihn ist es noch St. Petersburg), um
dort seine Frau zu suchen. Von diesem Moment
an beginnt die Geschichte der Geburt eines neuen
Menschen, der früher ein blindes und geistig ver-
dunkeltes Dasein eines Unteroffiziers Filimonoff
führte und jetzt zu dem Bewußtsein seiner eige-
nen Kraft und der Kraft der siegreichen Klasse ge-
kommen ist.

Die Grundlage der Empfindungen ist das Gefühl
des Interesses, das seine Klasse an den vorange-
henden Ereignissen hat. Die Filmautoren lassen
nicht den Filimonoff mit einer Gemütsrührung unsere
pathetische Gegenwart bewundern, sondern stellen
ihn an den Hauptkreuzungspunkt aller Konflikte,

damit die Einheit aller Gegensätze auch eine Ein-
heit in seinem Bewußtsein hervorrufen könnte. Es
ist sehr charakteristisch, daß die erste bewußte
Kriegserinnerung Filimonoffs ein Verhältnis der
Klasse zum Kriege vorstellt. In der ganzen Welt-
kinematografie ist es das erste und erschütterndste
proletarische und internationale Bild des Welt-
krieges.

Das neue Verhältnis der Menschen zu dem Pro-
duktionsprozeß erzeugt neue Formen von ihren ge-
genwärtigen Beziehungen, der Vorgesetzten zu ihren
Untergebenen, der Männer zu den Frauen, des Kom-
mandeurs zu den Soldaten in der Roten Armee.
Eine ganze Reihe von Konflikten bereitet unseren
Helden zu einem Zusammenstoß mit einem Problem
vor, das für seine unreife Produktionspsychologie
eine wesentliche Bedeutung hat: — Wer ist der
Wirt?

Die Antwort des Films lautet: „Das Arbeiterkollek-
tiv ist der Wirt."

Und nur nach der Erfassung dieses Grund-
problems beginnt dieser Mensch alle übrigen
Probleme und Aufgaben der Gegenwart zu verste-
hen. Als Filimonoff sieht, wie ein Nachbar am Werk-
tische während der Arbeit Branntwein trinkt, schreit
er ihm zu: „Bist du ein Wirt? Nein, du bist ein
Lump."

Der Film „Ein Bruchstück des Zarenreichs" endet
mit einem Zurufe: „Genossen, wir müssen noch sehr
viel arbeiten."

Das muß besonders hervorgehoben werden, weil
der Film mit allen seinen Grundideen dem gesell-
schaftlichen und politischen Leben des Landes an-
gehört. Er ladet nicht ein, mit Rührung zu be-
wundern, sondern fordert auf zu einer unerläß-
lichen Arbeit und zu einer genauen Berechnung
aller Fehler und Schwierigkeiten.

Vom Standpunkte der Form aus gesehen ist das
Filmszenarium durch eine vollkommene Ausschaltung
der Motivierungen charakterisiert, weil letztere nach
der Meinung des Regisseurs nur lästig sind und den
Zuschauer an kleinliche Ansprüche und an einen
Naturalismus in seiner Empfänglichkeit gewöhnen.

Der Film wurde in vierzehn Monaten aufgenommen
und montiert. Die Naturaufnahmen fanden in Odessa,
Leningrad und Charkow statt, wobei alles, was in
diesen Städten fotografiert, als eine Aufnahme in
ein und derselben Stadt montiert wurde. Das ent-
sprach dem Grundgedanken des Regisseurs Ermlers,
der das allgemeine Gesicht des sich rekonstruieren-
den Landes als ein synthetisches Bild des sozialisti-
schen Aufbaus zeigen wollte.

„Ein Bruchstück des Zarenreiches" ist der Zahl
nach das fünfte Werk des Regisseurs Ermlers und
seines Kollektivs. Von seinen Kunstwerken ist im
Auslande der Film „Käthchen, der Königsapfel" (eine
Straßendirne) bekannt.

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