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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 5.1930

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Schwab, Alexander: Menschenwirtschaft und Raumwirtschaft in Deutschland
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https://doi.org/10.11588/diglit.13711#0385

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stark industrialisiertes Land sind, müssen wir Men-
schenwirtschaft treiben, und zwar Menschen-
wirtschaft einer ganz bestimmten Art.

Und wiederum: weil wir ein Land mit überwiegend
industrieller Tätigkeit sind, sodann aber auch, weil
wir zum größten Teil in Städten wohnen, müssen wir
R a u m w i r t s c h a f t treiben, und zwar so, daß
diese Raumwirtschaft Genüge leistet sowohl den
menschenwirtschaftlichen Notwendigkeiten als auch
den Erfordernissen unserer Industriewirtschaft.

Nun aber sind alle diese Dinge noch dazu in einem
völligen Umbau begriffen. Der Krieg selbst, sein
Ausgang und alle Ereignisse seither haben unauf-
hörlich mit ungeheurer Geschwindigkeit alle Voraus-
setzungen unserer Menschenwirtschaft und unserer
Raumwirtschaft umgewälzt und immer wieder umge-
wälzt. Und diese Umwälzungen sind noch lange
nicht am Ende. Wir haben den Umbau, den wir
brauchen, um den Anforderungen der Lage gerecht
zu werden, noch bei weitem nicht beendet, ja, wir
haben ihn kaum eben erst begonnen.

Das heißt: unsere Menschenwirtschaft und unsere
Raumwirtschaft (mithin auch unsere Baupolitik) dür-
fen nicht statisch, sie müssen vielmehr dy-
namisch sein.

Das ist aber wohl die schwerste Anforderung, die
an Baupolitik und Bauwirtschaft gestellt werden
kann. Ja, man kann sagen: der Gedanke einer dyna-
mischen Baupolitik ist geradezu paradox. Denn von
allen menschlichen Tätigkeiten ist neben dem Acker-
bau der Hausbau diejenige, die am meisten zum
Festen, Stabilen. Bleibenden drängt: ein Haus, wenn
es erst fertig gebaut ist, steht nun eben einmal da.
so wie es ist; eine Stadt, eine Siedlung ist eben an
ihrem Fleck und bewegt sich nicht. Dennoch müssen
wir dies Paradoxe einer dynamischen Baupolitik zu
realisieren suchen.

Neben dieser Aufgabe scheint die der Menschen-
wirtschaft, die ja ein Teil davon ist, verhältnismäßig
einfach zu sein. Man hat die Wahrheit, daß die
menschliche Arbeitskraft der eigentliche Reichtum
Deutschlands sei. seit dem unvergeßlichen Friedrich
Naumann in Ministerreden schon ein wenig kreuz-
lahm geritten: wahr bleibt sie dennoch. Aber man
muß auch recht verstehen, was sie besagt: nämlich,
daß der deutsche Mensch mehr arbeiten muß und
besser arbeiten muß — vor allem besser arbeiten! —
als alle anderen europäischen Völker, wenn er
Schritt halten will. Wir können weder aus Rohstoff-
monopolen und reichen Kolonien reichen Gewinn
haben, noch uns genügsam von eigener Scholle
nähren: wir müssen industrielle Qualitätsproduktion
aufs höchste entwickeln.

Und die hochqualifizierte Arbeitskraft, die hierzu
nötig ist. braucht schon zu ihrer physischen und
psychischen Reproduktion eine Wohnung, die ein
Gegengewicht zu Lärm, Staub, Hast, Einordnungs-
zwang, Nervenbelastung der Fabrik sichert. Dann
aber erfordert der Anspruch auf Qualitätsleistung
in der Produktion auch einen gewissen Standard des
täglichen Lebens außerhalb der Produktion. Arm-
selige Nomaden mögen herrliche Teppiche weben —
Telefonapparate. Motoren oder chemische Gläser
können sie nicht herstellen, und wenn sie es lernen,
werden sie nicht mehr wie Nomaden hausen können.

Aber freilich: etwas vom Nomaden haben auch
die modernen Industriearbeiter an sich. Seit Jahr-

zehnten wandern sie ständig vom Lande in die
Stadt: die Städte mit mehr als 100000 Einwohnern
beherbergten 1871 erst 5,6 v.H., 1925 schon 26,8 v.H.
der deutschen Bevölkerung. In den eigentlichen
Industriegebieten leben heute zwei Drittel der deut-
schen Menschen. Und neben diesem Wanderzug der
Jahre und Jahrzehnte gibt es die beiden täglichen
Wanderungen der Millionen: von der Wohnung in
die Fabrik, von der Fabrik in die Wohnung, täglich
viele Millionen von Wegstunden, bewältigt zu Fuß,
mit der elektrischen oder der Dampf-Bahn.

Hier beginnt die Problematik der Raumwirtschaft.
Denn wer möchte behaupten, daß die ungeheuren
volkswirtschaftlichen Kosten dieses Verkehrs durch-
weg produktive Kosten seien, unerläßlich zur Siche-
rung der Volksgesundheit? Die einen wollen Wohn-
viertel und Fabrikviertel völlig voneinander trennen,
eben im Interesse der Volksgesundheit — aber in
der Praxis sind die Viertel meist noch gemischt: die
andern behaupten, der Elektromotor ermögliche für
viele Industrien die bauliche Zusammenlegung von
Fabrik und Arbeitersiedlung, durch die man Verkehrs-
kosten (einschl. Zeit) spare — aber auch das ist bis
jetzt nur Programm. Und welches der beiden Prin-
zipien ist richtig?

Man könnte diese Frage — vielleicht — theore-
tisch lösen innerhalb eines Beharrungszustandes.
Aber die Raumwirtschaft, die Siedlungspolitik, die
Baupolitik, die Deutschland treiben muß, ist kein
statisches sondern, wie schon gesagt wurde, ein
dynamisches Problem.

Der Strom der Geschichte fließt nicht zu allen
Zeiten gleich rasch. Selten war sein Tempo so rei-
ßend wie heute. In Deutschland ist es besonders
die Umlagerung der wirtschaftlichen Kräfte, die die
Aufmerksamkeit auf sich zieht. In den letzten vier
Jahren ein Anwachsen der Arbeitnehmer um 2,8 Mil-
lionen Köpfe, 1,8 Millionen mehr als die Bevölke-
rungsbewegung hätte erwarten lassen. Welche Rie-
senzusammenschlüsse der Industrie, welcher unauf-
hörliche Prozeß technischer und organisatorischer
Rationalisierung, welche Not großer Teile der ge-
treidebauenden Landwirtschaft! Große Industrie-
zweige, teils in wenigen Jahren aufgebaut, teils von
alters her blühend, werden unter Schlägen von den
Auslandsmärkten her fast zerbrochen. Weite Grenz-
bezirke drohen zu veröden, wenn ihnen nicht die
Umstellung auf die neuen Verhältnisse gelingt.

Wer weiß in dieser erst begonnenen Umordnung,
die doch vielfach auch eine räumliche Umstellung
bedeutet, wer weiß zuverlässig, wo neue Industrien
und neue Arbeitersiedlungen richtig, d.h. mit Aussicht
auf Gedeihen und Bestand, angelegt werden können?

Vielleicht ist — wer weiß es? — der zehnte oder
achte Teil unserer Industrien mit einer Millionen-
zahl von Arbeitnehmern heute am falschen Stand-
ort, bedarf einer Umsiedlung — aber wie und wohin?
Vielleicht, ja wahrscheinlich, muß man die großen
Städte weitgehend auflockern, sicherlich muß man
den Millionen, die an der Maschine arbeiten, die Mög-
lichkeit eröffnen, in ihren freien Stunden ein Stück-
chen Land zu bearbeiten. Sicherlich muß es diesen
Millionen möglich werden, ihre Kinder in gesunder
und natürlicher Umgebung aufwachsen zu lassen.

Denn auch das gehört zu der Menschenwirtschaft,
die wir nötig haben. Das deutsche Industrievolk hat
nicht mehr Lust, eine Uberzahl von Kindern in eine

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