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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 5.1930

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Riezler, Walter: "Stockholmutställningen 1930"
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https://doi.org/10.11588/diglit.13711#0524

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Allerdings ist die Situation, die zu gestalten
war, von beneidenswerter Schönheit. Das
schmale Gelände dem Wasser entlang gab die
schönste Gelegenheit zur Anlage einer zugleich
festlich und lustig wirkenden Jahrmarktstraße.
Der Blick durch den Wald der bunt wehenden
Flaggen hindurch auf Wasser, Stadt und das
jenseitige Ufer mit den schönen Baumgruppen
ist bezaubernd. Man begreift schon daraus die
erstaunliche Anziehung, die die Ausstellung aus-
übt. Aber die Leistung ist eben, daß diese
schöne naturgegebene Situation so reich und
phantasievoll mit den Mitteln des neuen Bauens
gestaltet wurde. Was von den ersten Verkündern
der neuen Baukunst von Anfang an behauptet
worden ist, was aber dann bald durch die Doktrin
der „Sachlichkeit" und notwendigen „Zweck-
gebundenheit" in den Hintergrund gedrängt
wurde: der Reichtum an Möglichkeiten einer
neuen zweckfreien Phantastik, — das ist hier in
größerem Umfange zum erstenmal an einer nicht
übermäßig seriösen, aber dafür um so reizvolle-
ren Aufgabe verwirklicht worden. (Auf einer viel
höheren Ebene konnte Mies van der Rohe an der
kleinen Aufgabe des Deutschen Pavillons von
Barcelona zeigen, welche Möglichkeiten einer
freien Raumgestaltung rein aus der Phantasie
heute vorhanden sind.) Daß diese Hallen, Buden,
Restaurants und Brücken alle einem bestimmten
Zwecke dienen, ist nicht das Wesentliche. Viel-
mehr sind umgekehrt diese Zwecke nur zum Vor-
wand für die freie Gestaltung genommen. Und
es stellt sich jetzt heraus, daß die Möglichkeiten
einer phantastischen Gestaltung heute zum min-
desten so groß wie früher sind, wo fast das ein-
zige, an Ausstellungsbauten bis 1925 oft genug
erprobte Mittel der Phantastik die maßlose Über-
treibung der Schmuckformen und die ganz freie
und skrupellose Verwendung der Surrogatstoffe
war. Heute gibt es keine Schmuckformen, und
der Unterschied zwischen Surrogat und „ech-
tem" Baustoff hat sehr oft keine Bedeutung
mehr. Aber eine neue Phantastik entsteht auf
dem Grunde der neuen Statik, die nicht nur ein
fast schwereloses Bauen, sondern auch eine
früher unerreichbare Freiheit in der Verteilung
der Massen und in der Gliederung der Flächen
ermöglicht. Noch niemals, seit es eine Baukunst
gibt, konnte man so frei mit den Formen und
Massen „spielen", ganz rein aus der Lust der
Phantasie heraus, — und daß man daran auch
noch Vergnügen hat, mag schon diese Ausstel-
lung, die ganz am Anfang des neuen Weges
steht, beweisen.

(Nebenbei gesagt: warum nennt man eigent-
lich die neue Bauweise „Funktionalismus"?

Wenn dieses Wort einen Sinn haben soll, kann
es doch nur bedeuten, daß die wesentlichen
Funktionen, also nicht nur der Zweck der Bau-
ten und Räume, sondern vor allem die Rolle der
aufbauenden Kräfte formbildend hervortreten.
So war es jedenfalls bei der Gotik der Fall, also
bei derjenigen Bauweise, die man im wahrsten
Sinne des Wortes „funktionalistisch" nennen
kann. Jede Einzelform drückt hier irgend etwas
Funktionelles aus. Funktionalistisch in einem
neuen Sinn, weil mit einem neuen Baustoff arbei-
tend, ist auch der ganze reine Stahlbau, die gro-
ßen Hallen, Brücken und Türme, bei denen die
Stahlkonstruktion rein in Erscheinung tritt. Im
Gegensatz hierzu wird bei dem eigentlichen
Bauen heute alles Konstruktiv-Funktionelle ab-
sichtlich verborgen, die Stützen werden zurück-
gedrängt und durch die Farbe noch besonders
unsichtbar gemacht, die Träger aber in den Wän-
den verborgen. Gerade darin, daß man nicht
sieht, wie sich eigentlich der Bau hält, also in
der Verleugnung jedes funktionellen Ausdrucks,
liegt die besondere Eigenart des modernen
Bauens.)

Was nun den Inhalt der Ausstellung anlangt,
so kann dieser an grundsätzlicher Bedeutung un-
möglich mit dem äußeren Gewände wetteifern.
Hier war ja die Aufgabe eine wesentlich ein-
fachere und herkömmlichere: die gewerbliche
Produktion des Landes in einer großen Übersicht
zur Schau zu stellen. Wie es gemacht ist, ist
größtenteils ausgezeichnet: nicht lehrhaft, nicht
mit dem Anspruch konsequenter Systematik, —
nur einfach geschmackvoll und sehr amüsant.
Eine Besonderheit ist auch hier die Ausstellung
der Konsumgenossenschaften, in der der neue
Geist deutlich sichtbar wird. In der Produktion
scheint auch heute noch im ganzen ein leise
fortschrittlich gerichteter Traditionalismus zu
herrschen, dessen relativ hohes Geschmacks-
niveau ebenso auffällt wie die auf manchen Ge-
bieten anscheinend noch fast unversehrt erhal-
tene Qualität der handwerklichen Arbeit. Daß der
Traditionalismus nicht eigentlich aristokratisch
gerichtet ist, geht daraus hervor, daß offenbar
auf die wohlfeile Massenware ein besonderes
Gewicht gelegt wird. (Es bedeutet sicherlich
sehr viel, daß der schwedische Kronprinz, des-
sen tätiges Interesse an den auf der Ausstellung
propagierten Ideen offenkundig ist, gerade die-
sem Problem der Massenware besonderes Inter-
esse entgegenbringt.) Hierbei beschränkt man
sich klugerweise keineswegs auf das Handwerk-
liche: die Fragen der industriellen Typisierung
besonders auf dem Gebiet des Möbels werden

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