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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 5.1930

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Tillich, Paul: Kult und Form: Vortrag gehalten bei der Eröffnung der Ausstellung des Kunst-Dienstes in Berlin am 10. November 1930
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https://doi.org/10.11588/diglit.13711#0676

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zu Unrecht Tradition genannt, und Lyrismen, zu
Unrecht Weihe genannt, und Arabesken, zu Un-
recht sakrale Gestaltung genannt. Es ist den Ge-
staltern solcher Dinge, auch wenn sie mit ihrer
Aufgabe ringen, nicht letzter unbedingter Ernst
mit der kultischen Form; denn in ihr kommt nicht
das zum Ausdruck, was ihres, was unseres Le-
bens wirklicher Grund ist.

II. Forderungen.
Daraus ergeben sich drei Forderungen, die
heute für die kultische Gestaltung zu erheben
sind:

1. Kultische Gestaltung muß bestimmt sein durch
Alltag,

2. Kultische Gestaltung muß bestimmt sein durch
Gegenwart,

3. Kultische Gestaltung muß bestimmt sein durch
Wirklichkeit.

Zuerst: Die kultische Form muß bestimmt sein
durch Alltag. Alle Tage sind unmittelbar zum
Ewigen, und jede Stunde und jedes Tun in jeder
Stunde gehört dem Sinn unseres Seins, gehört,

Kreuz, Nickel. Werkstätte für kirchliche Kunst im Rauhen
Haus, Hamburg. Leitung: Bernhard Hopp

Croix en nickel. Ateliers d'art religieux de „Rauhes Haus", Hambourg,
directeur: Bernhard Hopp

Nickel crucifix from the Workshop for eoclesiastical art in the Rauhen
Haus, Hamburg, under the directorship of Bernhard Hopp

Hölzernes Altarkreuz Th. A.Winde, Dresden

Croix d'autel, en bois
Wooden altar crucifix

religiös gesprochen, dem Gott, der es in Wahr-
heit ist. Wenn wir nun doch einen Feiertag brau-
chen, Tage, Stunden, Räume, Handlungen und
Worte, die im besonderen Sinne dem Ewigen zu-
gewandt sind, so ist es deswegen, weil wir auf
der Erde leben, weil das Schwergewicht des All-
tags uns wegzuziehen trachtet von dem Grund
und Abgrund, auf dem wir stehen, weil wir ein
Gegengewicht brauchen um unserer Schwäche
und Weltverlorenheit willen.

Dann aber gilt erstens: Je stärker ein Mensch
ergriffen ist von dem fordernden und tragenden
Sinn seines Lebens, desto weniger bedarf er des
Feiertages. Und es gilt zweitens: Wenn Feier-
tag, dann nicht als Tag neben und über den an-
deren, sondern als Tag, in dem die anderen Tage
zu sich selbst, zu ihrer eigenen Tiefe, zu ihrem
eigenen Sinn kommen. Und das bedeutet
erstens: Kultische Gestaltung ist in dem Maße
überflüssig, als unsere alltägliche Gestaltung Ge-
staltung aus reiner Ergriffenheit ist. Und es be-
deutet zweitens: Wenn kultische Gestaltung, so
muß sie repräsentative Gestaltung dessen sein,
was im Alltag geschieht, aus der sinngebenden
Tiefe des Alltags heraus. Darum ist jede Kult-

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