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Volksgemeinschaft: Heidelberger Beobachter, NS-Zeitung für Nordbaden (6) — 1936 (Januar bis Juni)

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https://doi.org/10.11588/diglit.9503#1923

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8eiis 12

MldsgenmME"
Eonntag, dcn 10. Mni MI

hincvb, als miifs« er en-lich daherkommen.
Keller hat im „Grünen Heinrich", in dem er
sich zum Dichter durchrang, der Mutter ein
unvergängliches Denkmal gesetzt,' «r hat ihr
auch in ihren letzten wenigen Lebensjahren
noch alle Liebe, all« Opfer, alles Warten und
Entbehren lohnen können,' sie erlebte «s noch,
ihn Lerühmt unö an hoher Stelle in Amt und
Würden zu sehen. So sah sie noch zu guter
Letzt ihr langes, opfervolles Dasein gerecht-
fertigt, die unbewußt« Ahnung hatte sich end-
lich doch erfüllt.
So klingt dies Unbewußte auch mit der
großen, bewußten Mütterlichkeit zusammen,
wie sie etwa Gabriele Reuter mcint, wo sie
von jener „gelassenen Mutterentsagung" spricht,
,chie einzig imstand« ist, junge Menschen weise
unb gütig zu hüten und wachsen zu lassen...
Sie öas Beste ihrer Lebenssä'fte, ihrer Geistes-
und Seelenkräfte freudevoll, heiter dahinschenkt
an ein Werdendes, unö dann öem Werdenöen
all« Türen öffnet und es hinausläßt ins Weite,
auf eigene Bahnen, und nichts mehr begehrt,
keinen Dank, keinen Ruhm, kein Zurückblicken."
Das ist die echte Mütterlichkeit.
Zu diesen großen Müttern gehört auch
Cornelia, die Nömerin, die Mutter der
„Gracchen". Äls eine vornehm« Besucherin,
mit ihren Kostbarkeiten und Schmucksachen vor
ihr prahlend, auch ihre Schätze sehen wollte,
nahm ste ihre beiden Söhne mtt den Worten
beiderHand: „Diese sind mein Schmuck,
meine größten Schätze!" Früh ver-
witwet, zog sie es vor, einsam zu bleiben, um
sich ganz öer Erziehung ihrer Kinder widmen
zu können, obwohl selbst der König von
Aegypten sich um ihre Haud bewarb. Si« war
auch die erste, die stch bewußt als Mutter be-
deutenöer Söhne empsand, und ließ sich gern
die Mutter der Gracchen nenncn... Zu den
grotzen Müttern gehört auch Maria There-
sia, gehört die stolze, feurige Lätitia Ramo-
lino, die Mutter Napoleons, in Frankreich
kurzweg „La mere" genannt, — gehört auch
öie Stiefmutter des Malers Anselm Feuerbach,
eine der wahrhaft echten Mütter. Und noch
viele könnte man nennen. Sie stehen hinter
den großen Söhnen, auch in der Unterbewußt-
heit ihrer Aufgabe, als geistige Wegbereiter.
Denn so fatzt es Wilhelm Raabe zusammen:
„Was man von der Mutter hat, das sitzt fest
und läßt sich nicht ausreden, und «s ist auch
gut so, denn jeder Keim der sittlichen Fortent-
wicklung des Menschengeschlechts liegt darin
verborgen."

Ümlutter Lracht /

Skizze zum Muttertag
Von Ruth Schibel

Der hevbstliche Tag geht zur Neig«. Mbend-
feucht« steigt auf. Frau Ulla steht am Feld-
rain und sieht dcn Schaffenden zu. Am Meffsr-
tisch stehen bie Frauen, die Bäuerin, Ullas
Schwiegermutter, eine gebeugte, verarbeitete
Frau, und ihre jüngste Tochter. Sie bücken sich
nach den Rüben, legen sie unter das Messer
und trennen mit schnellem Schnilt das Kraut
von der Rübe. „Gutes Futter für die Kühe",
sagt die junge Schwägerin, wenöet Ulla ihr
sonncnverbranntes Gesicht zu und zeigt auf
öen Berg von Rübenkraut, der unter ihrem
Mcsser wächst.
Drüben schafsen öie Männer. Hager und
sehnig ist der alte Bauer. Er steht gebückt, «r
klopft beihutsain die Erdklumpen von den Rü-
ben und wirft sie den Frauen zu. Hager unb
sehnig ist auch sein Sohn, Frau Ullas Mann.
Als habe «r nie ctw-as anderes getan, stößt er
öi« zweizinkige Gabel in die Erde und hebt
Nübe um Rübe heraus.
Die Frau Ulla am Wegrand fühlt stch selt-
sam ausgeschlossen aus der schweigsamen Ge-
meinschaft der vier. War es ihr sonst ein«
Freude, mit Hand anzulegen, wenn st« mit
ihrem Mann zu Besuch bei öen Schwiegereltern
war, heute kommt sie das Bücken hart an. Das
Kind, das sie erwartet...
Jhr Mann blickt auf. „Ulla", ruft «r, „du
frierst! Geh heim, wir kommen balb nach!"
Die Frau nimmt gehorsam thren Mantel und
wendet sich zum Gehen. Dl« Sonne ist unter-
gegangen, bald wird es bunkel setn. Schwer
und müde ist ihr Schritt, nun sie -urch die
Felder Heimwärts geht...
Frau Ulla ist aus öer Stadt, ihre Eltern
sind das, was die Leute hierzuland „Herren-
leut" neunen. Aber seitdem sie mit Georg
Vracht, öem jungen Arzt, oerheiratet ist, er-
scheint es ihr, als sei hier ihr Zuhause, wo
Eltern und Ureltern ihres Mannes i'hre Aek-
ker mit eigenen Hänöen bebaut haben. Sie
war so unruhig in den letzten Tagen in der
Stadt und ließ nicht nach, ihren Mann M bit-
ten, öaß er sich fttr einige Tage freimache und
wit ihr zu seinen Eltern aufs Land führe.
Hier, hatte Ulla gemeint, würde sie stolz und
freudig einem Kinde das Leben geben können,
dessen Blut von dieser Erde kam...
Aber der Degen, öen sie nun trägt, ist so

Eine, die Goethe nicht kannte / NLL'

Müller

Das war damals, als ich mich der Eltern
schämte. Ein jeder Junge schämt stch «tnmal
seiner Eltern. Schuld daran stnd nicht dte El-
tern. Vielleicht nicht mal der Junge. Eher noch
das Blut der Flegeljahre.
Meine Mutter küßte mich. Bei offenem
Fenster, ebenerdig Jch fand bas ungehörig.
Gesetzt den Fall, mcin Klassenfreunb, der Wig-
ger, hätte es gesehen. Der Wigger sagt, Ge-
fü'hle seien Mumpitz, Gefühl blamiere.
Auf Sonntag hatt« mich der Wigger einge-
laden. Bummel durch den Englischcn Garten.
Tre'ffpunkt Chinestscher Turm. „Jch begleite
dich ein Stück", sagte Mutter. Sie habe den
gleichen Weg. Jch log, ich ginge nicht, ich HLtte
Kopfweh. Jch ging öann doch. Allein beim
Chinestschen Turm sagt« Wigger, drüben warte
eine alte Dame. Jch sagte: „Verflucht!"
Einmal war Unterhaltung. Der Wigger
sprach von Hermann und Dorothea. Sehr ge-
scheit und verächtlich natürlich. Meine Mutter
sagt« auch etwas. Was, weiß ich nicht mehr.
Mber eins ging daraus hervor, sie kannte die-
ses Epos nicht. Jch dachte, jetzt wird der
Wigger sich erheben: „Bei Böotiern bedaure
ich, nicht mehr verkehren zu können."
Er erhob sich nicht. Aber ich ging noch am
selben Tag in die Buchhandlung. Am Abend
legte ich das Reclam-Heftchen „Hermann und
Dorothea" meiner Mutter auf den Nachttisch.
Wortlos. — Es lag auch am nächsten Tag noch
da. Ein« ganze Woche lang. Jmmer wortlos.
Dann verschwand es. Fünfunddreißig Jahre
lang blieb es verschwunden.
Gestern kramte ich in einer alten Bücher-
kiste. Da lag es. Fch hätte nicht gedacht, daß
man vor einem Reclam-Hcft zu zwanzig Pfen-
nig davonlaufen könnte. Jch hätte nicht ge-
dacht, daß einen dasselb« Reclam-Heft im Laufe
eines Tages deimal auf den Speicher hinauf-
zieHen könnte. Wortlos.
Endlich getraute ich mich, es anzurührsu:
Unaufgeschnitten! Da ivard s in mcinem Kopf
plötzlich wieder kühl und sachlich — vielleicht
ein Rest der Flegeljahre: Mcine Mutter also
war gestorben. ohne „Hermann und Doro-
thea" gelesen zu habcn. Möglich. daß ste Goethe
überhaupt nicht kannte.
Hm, mein Nachbar, der Feichtenbauer,
kennt Goethe auch nicht. Jch hatte einen Hund,
dem ich alles war, Goethe nichts. Von einem
kleinen Ladensräulein weiß ich. die „Hermann
und Dorothea" für ein Theaterstück hielt. Auch
der Maschinenmeistcr der Columbia hat es
nicht gekannt.

Der Maschinenmeister der Eolumbi'a hat
nnch in settt Schiff geschmuggelt, als mir s
schlecht ging, hundeschlecht, in Amerika. Das
kleine Fräulein hat mir den ersten Kuß ge-
geben. Der Hund hat mir das Leben gerettet.
Der Feichtenbauer hat in einem Wirbelsturm
erst mcin Haus gestützt unö dann das seine.
Mein Vormund war «in Goethekenner.
Mein Freund, der Wigger, wurde später
Rechtsanwalt, derselbe Wigger, der in den acht
Aufsätzen, die wir damals aus dem Gütter-
leib von „.Hermann und Dorothea" heraus-
schnciden mußtcn, öurchgehends eine Eins be-
kommcn hatte. Professor Binswanger hatte in
seinem Vüchcrschrank öie Sophienausgabe von
Goethe stehen. Daß dcm Verlcger Kalbusch
„Hermann und Dorothea" nichtganz ungeläu-
fig war, darf angenommen werdcn.
Nun die Gegenrechnung. Mein Bormund
hat mein väterliches Haus verschleudert. Pro-
scssor Binswanger hat mich im Examen mit
Behagen durchgeschmissen, weil ich bci örci-
undzwanzig Jahreszahlen, die «r mich in der
Literatur abfragte, nur mit elfen dienen
konnte. Mein Freund Wigger hat mich von
dem Tage an geschnitten, wo mein Einkom-
men unter 2»NN Mark gesunken war.
Das alles ist nicht welterschütternd. Aber
die Erinnerung daran hat doch an mir gerüt-
telt, als ich das unaufgeschnittene Reclam-
Bttchlein in dcr Hand hielt. Jetzt klapvte es
in der Mitte auf: Hcrmann und s-cine Mutter
im Garten hinterm Hause.
Hm, ob Hermanns Mutter „Hermann und
Dorothea gekannt hätte, wenn ste gleichzeitig
mit meiner Mutter auf die Welt gekommen
wäre? Jch glaube nicht. Da hätte also meine
Mutter ihr die Hände reichen und ihr sagen
können — nsin. meine Mutter hätte i'hr wohl
nichts aesagt. Meinc Mutter hatte nicht nur
keine Bilduna, sondern auch nnr wenig Zeit.
Wenn man keine Zeit hat, kann 'man keinen
Aufsatz über Hermanns Mutter machen. Da
kann man höchstens Hermanns Mutter sein.
glaube ich.
Da klappte dic letzte Seitc !n dem Reclam-
Vüchlein auf „Lieber Fritz! Fch bin..." —
stand da, sonst nichts. Der Vleistift mutz ihr
wohl hinter „bin" abgcbrochen sein, der
Mutter.
„Fa, Mntter", riefs !n mir, „du bist, du
bist du bist!"
„Warst!" heult-e es auf einmal durch die
Speicherluft und ein zerkrampftes Bllchlcin
fiel aus meinen Händen. Unaufgeschnitten.

schwer geworden, datz «r ste fast zu Boden
zieht, und wie st« jetzt, in ihrer müttevltchen,
geheimnisvollen Gestalt, dem Dorfe zu geht,
öen Arm in die Seite gestützt, als ha-be sie öort
Schmerzen, steht ste aus wie von Furcht und
böfen Ahnungen geguält.
Am Eingang bes Dorfes, vor einem alten,
unansehnlichen Hause, um das di« Enten
schnattern, stehen drei Frauen, verbrauchte
Bauernweiber, im eifrigen Gespräch. Als Ulla
sich nähert und ihnen freundlich Guten Abcnd
bietet, verstummen sie rasch und senden ihr
prüfende, aber nicht ungute Blicke zu. „Jetzt,
Fraule! Fängt's bald an?"
Ulla weiß, was sie hierzulande denen schul-
dig ist, die sie ansprechen. Sie bleibt stehen.
„Wcnn es nur «rst vorbei wäre!" sagt ste und
versucht ihrer, Stimme einen Klang von
Festigkeit zu geben.
„So schlimm wird's net grad werden", trö»
stet eines der Weiber, „schau die Frau Doktor
nur öie Mutter an von Fhrem Mann! Acht
Kinder, und alle brav und groß, und die Frau
steht jetzt noch aus dem Fe'ld und schasft."
„Acht Kinder stnd viel!" sagt Ulla «Hrfürch-
tig.
,Sch hab zehn gehabt", sagt ein« ander«
schnell „und hab nie den Doktor ge'braucht."
„Und ich hätt' dreizehn hwbcn können", fagt
öie dritte...
Ulla sieht ste an. Sie größer als die beiden
anderen Frauen, größer auch als Ulla. Fhr
weißes Kopftuch beschirmt ein Gesicht von kräf-
tigem Bau. „Dreizehn Kinder hätk ich heut,
wenns mir die Herren drnnten von derStadt
nicht verwehrt hätten", fährt ste fort, undeine
seltsam« Heftigkeit erwacht in ihren glanzloS
gewordenen blauen Augen. „Wie ich nieder-
kommen sollt, uwd das Kinö kam nicht von
selbst, da haben sie mich in die Staöt gebracht,
weil sie gedacht haben, es wtrd schlimm. Und
in der Klinik die Herrcn — wie die Doktors
halt sind — ste haben gesagt, ste mllffen operic-
ren... unö ich hab nix metzr gewußt unö nix
mehr gcspttrt... Aber einmal, da bin ich auf-
gewacht, und der eine von deu Herren, öer
Profeffor, öer hat mir ins Gcsicht geschaut.
,Frau Bracht, hat er gefragt, wieviel Kinder
haben Sie?" — ,Zwölf', hab ich gesagt."
„Frau Bracht heitzen Sie?" fragt Ulla, nnd
fühlt, wie das Blut zu ihrem Herzen geht.
„Zwülf Kinder, ha'b ich dem -Herrn Proses-
sor gesagt", fäürt die Frau fort, ohne Ulla zu
beachten. „Da haben die -Herren Doktors einer
den andern angeschaut, und der Profeffor hat
wieder gesagt: ,Schcn Sie, Frau Bracht, dies
Kind jetzt, das macht uns Mühe. Nur eins
kann leben, die Murter oder das Kind. Sie stnö
gesund und stark und Muttcr von zwölf Kin-
dern, Jhr Kind abcr, das können wir wohl
fühlen, ist nur schwach und klein, und niemand
weiß, ob es am Leben bleiben kann, wenn es
zur Welt kommt. Sie haben für vtele andere
Kinder zu sorgcn, Frau Bracht, darum müssen
Sie dies Kind hergeben!"— Jch aber hab net
gewollt, ich hab um mich geschlagen und ge-
schrien: ,ich will mein Kind, ich will mein

schöns Kindl" Aber ste haben mich festgehal-
ten, und wie ich ivieöer zu mir kommen bin,
da hats Kinderbettl« gefehlt, das vorher da-
gestanden war... So ist mirs gangen, sonst
hätt ich heut dreizehn", sagt die Frau und
atmet tief.
Frau Ulla verabschiedet sich unö geht, indes
die Fraucn ihr nachschauen, die Dorfstratze
hinunter. Wie hatte öas alte Weib sich ge-
nannt? Frau Bracht? — Aber so hcißt sie ja
selbst seit ihrer Heirat, sie, Ulla Bracht! Ge-
wiß, es gibt viel« dieses Namens im Dorf, sie
brauchen gar nicht mitcinander verwandt zu
icin, sie, Ulla, und öiese alte Frau. „Sie ha-
ben kein Kind, Frau Bracht", haite man der
Tausend Mütter
Bo« tauseud Müttern komme ich her
Uud bin vo» ihren Träumc« schwer,
Sie sind in meinem Blut.
Jhr Wesenserbe ruht
Jn mir, es wuchs als schnendc Kraft,
Als Glaube, Wille, Lcidenschaftt
Strom, der aus fernem Ouell entsprang,
Er trägt mich, wie er mich durchdrang.
Jch weitz, wic sehr wir Nachhall stnd
Und wic Gewescnes uns umspinnt
Und Eiust «nd Hcut zusammenrinnt...
Karl Burkert.
gesagt, kein Kind, Frau Vracht... würde man
das auch zu ihr sagen? Ulla geht hastig an oer
kleincn Kirche vorbei, guer über den Dorfplntz.
Zwölf Kinder hatte die Frau gehabt. lieber
Herr, zwölf Kiuder... und doch kämpste sie
nvch nm das dreizehnte, das ihr daS Lelen ge-
kostet hätte! Und Ulla ist zu Mnte, als sei ihr
öie Urmntter jencr Familie erschienen dcr sie
durch ihre Heimat angehört, jene lerne Frau
Bracht, die vor Jahrhuiidertcn diesem Acker,
diesem Dorf ihre Kiiidcr geschcttkt hat... viel-
leicht waren es zivölf, vielleicht mchr, — und
deren jüngsten Nachkommen jetz-t, sie, Ulla, un-
ter dem Herzen trägt...
Gegen Abend öes folgenden Tages wird
Ullas Sohn geboren. Als sein Vater sich über
ihn beugt, schlägt er die Augen auf, «s sind die
länglich ge-fchnittenen Angen zwischen schmalen
Schläfen, wie alle Brachts sie habcn-
„Er sieht mich an, Ulla, wie ein kleiner
Weiser", sagt der Arzt halblant zu seiner
Frau, „wie «iner, der Grttße bringt aus einer
fernen Welt." — „Vielletcht bringt er Grüßs
von der Urmutter", sagt Frau Ulla schwach.
Der Mann wischt mit einem Tuch ü'ber ihr«
feuchte Stirn. „Von der Urmutter? Wer ist
das, Ulla?"
„Ach, du mußt fle doch kenncn! Si« heißt
Frau Bracht, gcnau wie ich, unö hat z-wölf
Kinder!"
„Hente", lächelt Georg Bracht, „heute bin
ich froh an diescm einen Kind, und daß du noch
keine Urmutter bist."
„Aber ich werde ein« scin!" sagt Ulla und
blickt auf das klcine Bündel, das ihr Mann
auf üen Armen bält.

Du Muiter / «»n

Watter v. Molo

Buddleia war die Tochter sehr achtbarer
Leut-c, wi« immer hervorgehoben wurde, wenn
wieder jemand über diesen sonderbaren Na-
men verwunbert seinen Kopf schüttelt«. Das
beruhigte, gewiß — aber Buddleia...?
Als Kinb war stc bereits dadurch aufgefal-
len, daß sie höher als andere einherfchritt. Und
dann später wollte ste studieren, und si« er-
zwang es auch, daß ihre Eltern nachgaben: öa-
mit vcrschwand sie aus ihrer Hcimatsta'dt.
Hierauf verbrcitete sich das Gcrücht, daß sie
zum Theater gegangen sei. Und als bci eincm
ihrer Urlaube, den si« zu Hause verbrachte,
cinmal im Sonncnschein in dem großen Gar-
ten, der hinter öcm elterlichcn Haus« sich da-
hinstreckte, die Wäsche getrocknet wurde, da
grtff Tante Paula, di« unverehelichte Schwe-
ster i-hres Vaters, an ihren Mund und sagte
nichts anderes als: „Mein armer Bruherl
Der wird noch visl mit ihr mitmachcn,' ste
trägt seiden« Wäsche!"
Dann heiratete sie. Natürlich nicht wie an-
dere, es mußte bei Buddleia Einer sein, der
mit der Kunst, diesem unheimlichcn Ding« zu
tun hatte. Er war Maler, ohnc Profefforen-
titel. Da'sah endgültig jeder, daß ö-as Unglück
weiter scinen Laus nahm.
Das erwies sich An «inem schönen Früh-
lingstage ging Nu'ddleia mit ihrem Mann und
ihrem kleincn Jungen in der großen Stadt
spazieren. in der ste wohnte. Rechts sahen alt«
Bäiime über eine Mauer, die ein Regierungs-
gebäude abgrenzte, links fuhren surrend die
Straßenbahnen hin und her. Ieder, der Budö-
leia begegnete, erblickt« e-ine schöne, jnnge
Frau, die lebensfreudig und unbckümmert da,
hinschritt, mit frischen unö blanken Augen. in
eincr sehr moderncn Kleidung, dic auffiel.
JHr I'Uiigc spielte mit einem Ball, dem er
nachlief und immer wieber jubelnd aufhob.
Es geschah, datz der Ball auf öie Fahrbahn

hinausrollt«, auf öje Schienen der Stratzen-
bahn, und dcr Jung« rannte ihm mit seinen
kl«inen, halbnackten Beinchen hurtig nach. Da
kam in voller Fahrt ein Straßenbahnwag««
dahergebraust, der Sohn Buddleias sah ih»
nicht, denn er bückte sich nach seinem Ball, dicht
vor dem schwercn Straßenbahnivagen, öessen
Führer wohl im letzten Aug-enblicke noch zu
bremsen v-ersuchte, aber es g-elang n-icht.
Buddl-eias Dtann schrie cntsetzt, die schöne
un-d elegante Bnddleia aber sprang mit einem
geivaltigen Satze zwischen ihr Kind und den
Straßenba-hnwag-cn. Mit aller Kraft stieß si«
cs von den Schicnen weg, und dann war das
Gcschrei ganz stark, und die Straßenbahn stand.
DasKind war unverletzt und gerettet, ab-er
Buddleia lag unter dem schw-eren Gefährt. Ae<
der sah, das war übe-l aus-gegangen,
Dann kam dcr NettungSwagen. Buddlcta
ver-schmand mit todblassem Anilttz aber freu-
öigen Augen, g-ehoben von Männern in der
Roten-Krenz-Un-iform im Jnneren ücs Wa-
gens. Das lchte. was man noch sah, wär, datz
ste bei B-ewußtseiii war uud glücklich lächelte —
,/das eine Bc-in ist gauz ab", sagte «iuer, der
cs wußte. Diese Nachricht traf in Buödleia?
Heimatstadt ein, jeder erzählte sie dem audern.
Lange währte das Krankenlager, und als sie
wieder in die Freiheit hinaus durste, hiukt«
Buddlei-a. Denn «in Maschinenzeug, und wenn
es auch noch so vollenöet gebant ist, kann nie-
mals die gewachs-ene Kraft eines gesuuden
Glicdes ersehen. Wied-er ging Buddleia mit
ihrem Sohn spazieren, aber er sah jctzt sehr
ehrfürchtig zu ihr auf, die froh lächclte, datz
ihr Kind unbefchädigt war.
Von dem Tage Ses großen Unglücks an —
das war wiedcr höchst eigenartig — sa-gte ihr
Mann nicht mehr „Buddleia" zu ihr. sondern
immer nur, wenn er zu seiner jungcn Frau
sprach: „Du, Mutter!"
 
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