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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 5.1930

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Schwab-Felisch, Hildegard: Das Waisenhaus: Bau, Raum und Tracht
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https://doi.org/10.11588/diglit.13711#0024

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dings — bereits vor dem Krieg sind vereinzelte An-
sätze zu einer Neugestaltung des Waisenhauses ge-
macht worden. Das Luisenstift in Lichterfelde etwa
verwendet bereits Riemerschmidsche Schulmöbel:
von einem neuen Begriff von Zweckmäßigkeit aus-
gehend, wirken an diesem Bau neben dem Architek-
ten der Hygieniker und der Pädagoge mit, so daß an
der repräsentativen Nordfront zur Straße zu gelegen
Schuhputzraum und Küche liegen, während die
Tagesräume zum Garten zugewandt sind. Aus der
Handwerksstätte ist das Bastelzimmer geworden,
das direkt neben dem Arbeitszimmer liegt, so daß
der Verkehr zwischen den Räumen selbstverständ-
lich und geräuschlos abläuft. Zwischen beiden Zim-
mern befindet sich eine herausnehmbare Wand, da-
mit sie in einen Festsaal verwandelt werden kön-
Wohnzimmer Rummelsburg Foto sehbein ne,n und die kalte Pracht der Aula gespart wird,

jetziger zustand. Die Möbel sind die gleichen geblieben, Alle diese Einzelheiten leiten sich aus dem Zweck-
nur zersägt, umgelegt, gestrichen, umgestellt mäßigen ab — man spürt die Einflußsphäre des

Werkbundes. Und doch ist das Ganze mehr ein
Schloß als ein Waisenhaus, es täuscht über den
Charakter und gibt deshalb keine Lösung.

Die neue Zeit hat keinen Anlaß, die Aufgabe einer
Anstalt zu verbergen. Ein Waisenhaus ist ein Wai-
senhaus: sein Zweck ist klar: Kindern, die ohne
Eltern sind, soll das gegeben werden, was die Fami-
lie zu leisten hat: Obdach, Versorgung, Befriedung
und Erziehung zum Leben. Vielfach greifen die
Zwecke der Anstalt noch darüber hinaus und umfas-
sen auch den Unterricht. Je nüchterner diese Auf-
gabe gesehen ist, desto klarer werden die Forde-
rungen. Daß auch alte Anstalten sie gesehen und
verwirklicht haben, zeigen Umbauten und innere Ver-
änderungen der Räume.

Andererseits sind die Mittel völlig verschiedene.
Während das Elternhaus seine Aufgaben unsyste-
Sport im modernen Waisenhaus Foto Rehbein matisch, gewissermaßen nebenher erledigt, werden

sie in einer Anstalt zum Problem. Man kann die Kin-
Masse in Einzelgruppen und Verteilung der Gebäude der nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie eltern-
in einem Park mit Spielplätzen, Zugang zum Wasser los sind. Diese Illusion ist im Abbau begriffen, eben-
und so weiter. so, wie an unserer Straßenfront die Illusion der ita-

Getrennt von den Einzelhäusern lagen wie im lienischen Renaissance-Paläste zu schwinden be-
Rauhen Haus Schule und Werkstätten, die zur Aus- ginnt. Es bleibt also die Aufgabe, die Kinder ihre
bildung, aber nicht wie früher zur Erwerbsarbeit Situation so erfassen zu lassen, daß sie sie bewußt
dienten. Aber auch hier rochen Innenräume und erkennen und zu einem Positivum umbiegen. Gewiß
Tracht der Kinder nach Armut. Bänke ohne Lehnen, hat man das auch früher schon erkannt. Aber alle
lange Tische, finstere Wände, gardinenlose Fenster, frühere Anstaltserziehung ging darauf aus, gerade
steinerne Treppen, ausgebaute Kellerräume gaben wegen der Elternlosigkeit den Lebenston der Kinder
den eintönigen Hintergrund zu der blau und weiß ge- zu dämpfen.

streiften Baumwolltracht der Kinder, die jetzt nicht Alle frühere Erziehung des Waisenkindes ver-
mehr wie einst die guten Stoffe der merkantilisti- suchte, das Risiko aus seinem Leben auszuschalten,
sehen Zeit trugen, sondern als Armenkinder auch Sei es, daß man es zur Fabrik erzog oder zum Sol-
bewußt ärmlich gekleidet waren. Trotz des großen daten, zum Lehrer oder zum Handwerker und Dienst-
Wurfes mit der völlig neuen Grundrißlösung blieb das mädchen — die Anstalt übernahm die Verantwortung
Waisenhaus doch im Geist seiner Zeit befangen. und leitete den Schützling Schritt für Schritt. Und
Der Geist der bürgerlichen Wohltätigkeit, der dem gleichzeitig erstickte sie damit die primitiven Ge-
Haus und dem Kinde den Stempel der Armseligkeit fühle der Sicherheit, Geborgenheit und Freiheit
aufprägte, schuf die „kalte Abseitserziehung", die innerhalb eines größeren Kreises. Sie atomisierte
aus der Pestalozzischen Hingabe eine Versorgungs- das einzelne Kind, um es als Masse zu mechani-
maschinerie geschaffen hatte, deren Sinn nur noch sieren. Die Schulbänke, blank poliert, als Wohnplatz
der der Unterwerfung unter die kapitalistische Welt der Jungens, sind charakteristisch für die Atomi-
zu sein schien. sierung. Die Massenabspeisung und -Lagerung beim

Der Weltkrieg hat auch auf diesem Gebiete wie Schlafen beleuchten die Mechanisierung des alten
auf so vielen anderen eine gewaltige Änderung ge- Systems. Die moderne Waisenhauserziehung weckt
bracht. Wenn die Zeit sich ändert, ändern sich auch im Kinde selber die Abwehrkräfte; auch das Waisen-
die scheinbar entlegensten Einrichtungen. Bis zu kind soll das Leben wagen —, und es soll sein
den Waisenhäusern dringt das neue Leben. Aller- Leben wagen. Eine solche neue Einstellung dem

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