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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 5.1930

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Riezler, Walter: Das Kunstgewerbe heute und morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.13711#0309

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es wäre lohnend, einmal zu untersuchen, wie sich
diese Formen zu der jeweiligen kulturellen Situa-
tion verhalten. So hat es sicherlich seine beson-
dere Bewandtnis, und ist es nicht nur eine ober-
flächliche „Mode", wenn heute gerade die Kak-
teen mehr als andere Pflanzen geliebt und ge-
pflegt werden: es ist ihr „atonaler" Wuchs, ihre
unfaßbare Gestalt, die uns nahe und vertraut ist.
Wir sehen in ihnen die Natur neu, anders wie
frühere Zeiten sie sahen, — aber sie ist in uns
lebendig wie je.

Das ist aber grundsätzlich von größter Wich-
tigkeit, nicht nur für die Frage nach der Zeitge-
mäßheit des Kunstgewerbes, sondern in viel
weiterem Sinne, — auch für 1932, oder wie man
jetzt sagen muß, für 1933! Was ist überhaupt
zeitgemäß? Die Tiefe der Kluft, die uns Men-
schen des heutigen Tages von der Vergangen-
heit trennt — daß eine solche Kluft nicht nur in
der Phantasie der Soziologen vorhanden ist, ist
sicher richtig — läßt zu leicht vergessen, daß
diesseits und jenseits der Kluft Menschen mit
gleichem Schlag des Herzens auf der gleichen
,,festgegründeten Erde" stehen, und daß von die-
ser Erde auch heute noch, wenn auch vielleicht
nicht ganz so mächtig und unmittelbar wie in
alten Zeiten, Ströme lebendiger Kraft in das Blut
der Menschen hinüberfluten. Nur weil es so ist,
weil es neben und über allem Wechsel ein Ge-
meinsames und Bleibendes gibt, können wir die
Äußerungen ferner und fremder Kulturen ver-
stehen und nachfühlen. Diese Erkenntnis wird
heute zu leicht von der Macht des Neuen, das
auf uns einstürmt, verdunkelt. Gerade denjeni-
gen, die das Neue am lebendigsten empfinden,
die selbst schöpferisch an der Gestaltung der
„Neuen Zeit" mitarbeiten, verschwindet allzu-
leicht hinter dem Neuen, noch nie Dagewesenen
das Bleibende, Ewige. Sie kämpfen gegen das
„Gestrige", das sich trübend und störend vor

das neu Werdende stellt, mit vollem Recht. Denn
in der Tat ist dieses Gestrige, die noch nicht
ganz überwundene Macht der aus früheren Epo-
chen stammenden Formen schuld an dem immer
noch schier unentwirrbaren Chaos, von dem un-
sere Zeit für jeden, der die Gesamtheit der Er-
scheinungen zu überblicken sucht, erfüllt ist.
Und es ist für das Gelingen der großen Ausstel-
lung entscheidend, ob die Führer den Mut der
entscheidenden Auswahl aufbringen, durch die
allein das Chaos gelichtet werden kann. Aber
auch die entgegengesetzte Gefahr ist nicht ganz
gering: daß mit dem Gestrigen, zum Untergange
Reifen auch das Bleibende, das unsere Zeit mit
der Vergangenheit verbindet, unberücksichtigt
bleibt, weil es nicht auf den ersten Blick als echter
Ausdruck der „Neuen Zeit" kenntlich ist. Wenn
das geschieht, wird wohl das Chaos der Gegen-
wart überwunden und das Bild der Zeit wird sehr
einheitlich, aber auch flach, denn dann fehlt jene
Polyphonie,die zum Bilde jeder Zeit, zu dem
der Gegenwart in ihrer problematischen Kom-
plexität doppelt gehört.

Eine der Stimmen in diesem polyphonen Ge-
webe, das in seiner Gesamtheit erst den wahren
Eindruck der „Neuen Zeit" vermittelt, ist auch
das Kunstgewerbe. Sicher nicht eine der wich-
tigsten — die bildende Kunst, die so mancher
heute mit nicht schlechten Gründen auch als
überwunden ansieht, oder Theater und Konzert,
über die man da und dort ähnlich denkt, sind
wichtiger! —, aber fehlen darf sie nicht. Aber
allerdings muß sich das Kunstgewerbe dann auch
wirklich in seiner Naturverbundenheit, die ihm
allein den eigentlichen Sinn, die tiefere Daseins-
berechtigung verleiht, bewähren, darf sich nicht
in Spielereien verlieren, die mit dem „Spiel" im
höheren Sinn, als das man sehr wohl alle künst-
lerische Gestaltung ansehen kann, nichts zu
tun haben.

Bildstickerei, Seide, unter
Glas

Viktoria Regener, Stuttgart

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