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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 5.1930

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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.13711#0620

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Grunde die meisten Menschen ihre Wohnung nicht
„modern" im Sinne von Lötz einrichten, und ein nur
einigermaßen geübter Statistiker kann sogar die Be-
reitwilligkeit feststellen, die besteht, sich modern
einzurichten. Man beschränke z. B. alle Erhebungen
auf neueingerichtete Wohnungen und weil
möglicherweise hohe Möbelpreise eine Hemmung
sind, beschränke man sich auf die neueingerichteten
Wohnungen der besitzenden Klassen. Es zeigt sich,
daß ein sehr kleiner Teil dieser Wohnungen modern
im Sinne der sicherlich viel anerkannten Pariser
Werkbundausstellung eingerichtet ist. Ja, wenn man
eine Umfrage unter den finanziell bessergestellten
Mitgliedern des Werkbundes, ja unter seinen Vor-
standsmitgliedern machte, würde die Zahl derer mit
80 v. H. „modernen" Möbeln sehr gering sein. Wir
werden Wohnungen mit 40 v. H., 20 v. H., 10 v. H. und
weniger v. H. „modernen" Möbeln sehr häufig an-
treffen. Und wenn wir gar nach Frankreich, England,
Amerika gehen, ist der Prozentsatz noch niedriger.
Will ein Hotel reiche Menschen anlocken, wählt es
meist nicht die Pariser Werkbundausstellung zum
Vorbild. Die meisten Menschen wollen nicht wie
in Schiffen wohnen, und wenn sie mit Schiffen rei-
sen, wünschen sie, daß die Kabinen und Salons wie
die traditionellen Wohn- oder Prunkräume aussehen,
und daß die mit Petroleum geheizten Dampfer dicke
Rauchfangattrappen haben, für die ja auch der „mo-
derne" Architekt aus Überzeugungstreue oder ohne
sie sorgt.

Wir wollen uns doch ernsthaft die Frage vorlegen:
sind alle diese Wohnungen unserer Werkbund-
freunde, alle diese Schiffe nicht modern? Kommt
nicht leicht das Paradoxon zustande, daß „modern"
nicht modern ist?

Sicherlich sollen wir auf der Ausstellung „Die
Neue Zeit" die herrlichsten neuen Möbel zeigen,
aber die Ausstellung darf im Durchschnittsbesucher
nicht den Eindruck erwecken, als ob nun diese
Möbelformen auf der Welt sich wesentlich durchge-
setzt haben. Wir müssen jedenfalls auch
zeigen, wie die Welt wirklich ist.

Auf der Ausstellung „Die Neue Zeit" muß auch
die wirkliche Wohnung zu sehen sein. Wir
dürfen die Wünsche einer kleinen Gruppe, vielleicht
führender Geister, nur als das zeigen, was sie sind:
bedeutsame Einzelleistungen. Die können ausgiebig
unterstrichen, kräftig und ausführlich vorgeführt
werden.

Die „Waldschule" z. B. ist eine beglückende Insti-
tution und die Veröffentlichungen des russischen
Staatsverlages für Kinder sind äußerst erfreulich.
Die Frage, die auf so einer Ausstellung auch be-
antwortet werden muß, ist: Wie viele Kinder be-
suchen in Deutschland Waldschulen? Wie viele Kin-
der bekommen die Bilder des russischen Staatsver-
fages in die Hand.

Man müßte „Modernitätskoeffizienten"
feststellen und jedem zum Bewußtsein bringen. Man
würde sehen, wie ungeheuer die Verände-
rungen der letzten Jahrzehnte sind,
was alles nichtmehr im Kurs ist, aber gerade
gewisse brillante Einzelformungen, gewisse geist-
volle Neugebilde werden statistisch unmittelbar
nicht sehr zur Geltung kommen, wohl aber als be-
deutsame Anzeichen der umfassenden Gesamtwand-
lung. Ein Viertel der gesamten Kölner Ausstellung —

das ist wohl keine unbescheidene Formulierung —
sollte man der soziologischen Erfassung der moder-
nen Realität widmen.

Wenn wir dem farbenfrohen, gestaltreichen Men-
genbild, dieser neuartigen Gebrauchsgra-
fik, in der Ausstellung „Die Neue Zeit" den ihm ge-
bührenden Platz einräumen, dann kommen wir dem
Zeitgeist durchaus entgegen. Im 19. Jahrhundert
freuten sich die Menschen an Illustrationen, die
schöne Lungenheilstätten zeigten, der moderne
Mensch ist noch realistischer geworden, der fragt;
wie viele Menschen kommen dorthin, haben meine
kranken Freunde Chance hinzukommen? Die
Quantität ist ihm wesentlich.

Das übliche technische Museum zeigt Höchst-
leistungen des menschlichen Geistes, führt Nut-
zungssteigerungen vor, es zeigt nicht, wie viele
Menschen die Maschine nützen! Der
Mensch fehlt in diesen Museen. Und die Ausstel-
lung „Die Neue Zeit" soll eine Ausstellung des le-
bendigen, sozial lebenden Menschen
sein, dessen Schicksal von den Einrichtungen der
Völkergesellschaft, der Einzelstaaten und Gemein-
den, von den großen Organisationen und nur zu
einem sehr kleinen Teil von seinem persönlichen Ent-
schluß abhängt. Der moderne Mensch der Gegen-
wart, verteilt auf Völker, Staaten, Klassen, Parteien,
ist eine Realität, die wir statistisch erfassen, der
Mensch der Zukunft eine Realität, die wir statistisch
zu prognostizieren versuchen. Sein Leben hängt
aber von den Wandlungen der Produktion, der Ein-
kommensverteilung und allem, was an gesellschaft-
lichen Veränderungen auftritt, ab. Eingebettet in
solche Umgestaltung ändern sich Möbel und Kleider,
Hausformen und Straßen, ändern sich Dachformen,
Wandbekleidung und vieles andere.

Ob Lötz das Verhalten der Menschen wirklich
richtig deutet, wenn er die Maschinenschwärmerei
für verbreitet hält? Die dürfte sich wohl nur auf eine
sehr kleine Menschengruppe beschränken. Und
wenn er von dem „sozialen Ethos" spricht, das auf
leisen Sohlen durch die Schöpfungswelt der Radi-
kalen huscht, so meinen wir, daß man die gesell-
schaftliche Glücksgestaltung weit kräftiger betonen
sollte, selbst auf die Gefahr hin, daß man dabei
weniger radikale, wenn auch beglückendere Formen
schaffen könnte. Das Glück ist wichtiger als das
Prinzip. Wenn wir statistisch erfaßbare Neugestal-
tung in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken,
dann bleibt uns die Tragik erspart, von der Lötz
spricht. Und wenn er meint, daß „modern sein" heiße,
hinter den Kräften stehen, die in die Zukunft wei-
sen, so glauben wir modern zu sein, wenn wir für
die statistisch erfaßbaren Massenwandlungen aus-
giebige Berücksichtigung in der Ausstellung „Die
Neue Zeit" verlangen. Wir kämpfen für die „Neue
Zeit", aber immer vom festen Boden der Realität
aus. Und den historischen Ablauf begreifen und in
ihm tatenfroh wirken, heißt nicht „alles aus sich
heraus so laufen lassen, wie es nun eben läuft".
Im Sinne historisch begründeter Prognosen plan-
mäßig handeln ist noch lange kein Skeptizismus;
vorsichtige Abschätzung eines gewiß prinzipiell
geformten Radikalismus, der letzten Endes die Ge-
samtlage zuweilen nicht allzusehr ändert, ist noch
lange nicht Zweifel an der gestaltenden Arbeit, wie
sie der Werkbund verrichtet.

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