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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 5.1930

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Rundschau
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RUNDSCHAU

SOUS LES TOITS DE PARIS

Ein Tonfilm von Ren6 Clair

Nun haben wir doch endlich erlebt, daß ein Ton-
film geschaffen wurde, der nicht nur in problema-
tischen Ansätzen die Möglichkeiten dieses neuarti-
gen Mittels zeigt und der nicht nur eine Schar von
Avant-Garde-Enthusiasten interessiert, sondern als
eine reife und lebendige Arbeit einen großen Zu-
hörerkreis zu fesseln vermag.

Wir haben gewiß im stummen Film gerade in den
letzten zwei Jahren wirklich Überzeugendes ge-
sehen, wir erinnern an die Russen, vor allen an
„Turksib", dann an die „Jungfrau von Orleans", an
„Die neuen Herren" und schließlich auch an „Die
Menschen am Sonntag". Und als jetzt der Tonfilm
aufkam, sah man mit Schrecken, wie dieses neue
Mittel wieder da anfing, wo auch einst der stumme
Film angefangen hat. Gewiß haben sich einige Re-
gisseure, die aus den Kreisen der Avant-Garde
kamen, rasch auf die neue Materie gestützt: wie
Ruttmann und Hans Richter mit seinem „Alles dreht
sich, alles bewegt sich", aber diese Arbeiten ge-
wannen nicht den Einfluß auf die eigentliche Tonfilm-
produktion wie die Filme der Avant-Garde in den letz-
ten Jahren auf die Produktion der stummen Filme.
Amerika beschert uns seine hundertprozentigen Ton-
filme mit all ihrer kitschigen Sentimentalität und
Deutschland tonfilmte Operetten im „Alt-Heidelberg-
Stil".

Die Amateure in der Fotografie haben neues
Leben gebracht. Selbst noch im stummen Film, der
für den Amateur ein fast unerschwinglich teures Ex-
perimentiermaterial darstellt, haben Außenseiter
ausgezeichnete Anregungen und neue Zielsetzung
gebracht. Wenn man nun daran dachte, daß der Ton-
film all diese Möglichkeiten des Einflusses von
Außenseitern durch seine Kostspieligkeit ausschloß,
und daß er auf lange Zeit hin die Domäne der ganz
großen Filmgesellschaften bleiben würde, mußte
jede Hoffnung schwinden. Dieses neue Mittel mit
seinen phantastischsten Möglichkeiten schien auf
ewig verdammt, nur Mittel zur Befriedigung kitschig-
ster Sensationsbedürfnisse und billigster Schaulust
zu bleiben. Und seltsamerweise hat nach den ersten
Aufführungen des französischen Tonfilms von Rene
Clair nicht nur ein interessiertes Publikum neue
Hoffnung geschöpft, sondern auch die Presse mit
ihrer etwas schalen Filmkritik hat geradezu begei-
stert zugestimmt und der Empfindung Ausdruck ver-
liehen, daß hier wirklich eine reife Arbeit gezeigt
wurde, die Anlaß zu der Hoffnung gibt, daß das Ge-
biet des Tonfilms noch nicht ganz an den Kitsch
verloren ist.

Das Eigenartige an diesem Film ist. daß man gar
nicht mehr an das Mittel erinnert wird. Man emp-
findet nicht mehr, daß der Ton und das Bild zwei
Dinge sind, die durch den Tonfilm schwer soweit

gebracht werden können, daß sie als einheitlicher
Eindruck auf den Menschen wirken. Man denkt nicht
mehr daran, daß es eigentlich unangenehm ist, wenn
man ein bewegtes Bild sieht und dabei Geräusche
hört, die mit der Bilderscheinung in einem ähnlich
organischen Zusammenhang stehen sollen wie der
Eindruck von Bild und Ton vor der Natur und den
Ereignissen selbst. Man wird durch die kleine Ge-
schichte, durch die Feinheiten der Handlung, durch
die prickelnde Formung des Geschehens, für das
der Tonfilm nur Mittler ist, so sehr gefesselt, daß
man nicht auf das Ubertragungsmittel näher achtet.
Und es ist sehr bezeichnend, daß man ein unange-
nehmes Gefühl hat, wenn wie bei der Berliner Ur-
aufführung der Darsteller des Stückes selbst auf
die Bühne tritt und den Schlager des Films herunter-
singt. Die Filmerscheinung des Menschen ist einem
vertraut geworden, und dieser Eindruck wird zer-
stört, wenn dieser Mensch nun selbst vor einem
steht.

Diesen Film konnte nur ein Franzose herstellen.
Man empfindet Verwachsenheit nicht nur mit der
französischen Atmosphäre, sondern auch mit der
französischen literarischen Tradition. Die Feinheit
der psychologischen Darstellung, die bis kurz vor
die Grenze der Überspitzung geführt wird, wird nie
zum Problem, sondern bewegt sich immer in dem ge-
fälligen, leicht von Humor durchtränkten Rahmen
der ganzen Handlung. Der Regisseur steht immer
über der Situation, er steigt nie in Abgründe des
Geschehens, sondern bleibt immer in der lyrischen
Atmosphäre der Handlung. Dieser Film ist nicht
musikalisch, weil er mit Musik durchsetzt ist, son-
dern weil alles, Handlung. Bewegung, Ton in einen
lyrisch-musikalischen Ablauf und Rhythmus einge-
bettet sind. Die Atmosphäre der kleinen Gauner in
der Seitenstraße wird nie zum tragischen Unter-
weltfilm, die Menschen werden nie zu tragischen
Figurinen, sie bleiben, vor allem das Mädchen, das
in der Mitte der Handlung steht, immer froh be-
schwingte Menschen, die Leben und Ereignisse nie
tragisch nehmen. Es fehlt wie in der Darstellung
jede Kraßheit so in der Handlung jedes tragische
Verbohren.

Der Erfolg dieses Films liegt in der Tatsache, daß
das Darstellungsmittel scheinbar nicht wichtig ge-
nommen ist, oder richtiger gesagt, daß es so be-
herrscht ist, daß man spürt, wie es nicht Selbst-
zweck wird, sondern das bleibt was es ist, nämlich
Mittler eines Geschehens. Dies Geschehen kann
reale Wirklichkeit sein, oder wie in diesem Fall, ge-
formte Handlung. Wir haben viel von dem „Wie-
geredet im Film, es ist Zeit, daß wir das „Was"
wieder wichtiger nehmen. L-

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