Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 12.1920
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https://doi.org/10.11588/diglit.27227#0488
DOI issue:
Heft 12
DOI article:Valentiner, Wilhelm Reinhold: Karl Schmidt-Rottluff
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Den Stil der beiden folgenden Jahre erläutern einige weibliche Akte und Stilleben,
die fiel) in der Hamburger Kunftfmlle und im Befit} 6QilI)elm Niemeyers und Rofa
Sdjapires in Hamburg befinden. Nod) atmet in diefen Flerken eine warme Lebens-
freude und Sinnlichkeit. Ein leuchtendes Goldbraun in den Akten wird durch
glühendrote Umrandung, durch rote, blaue und gelbe Flecken im Grund zu fd)önfter,
leidenfdjaftlicher Flirkung gebracht. Und fd)on ballen fiel) die Formen beftimmter
zufammen, heben fiel) in ftärkerer Plaftik heraus. — 3u ftarken Umriffen haben fid)
die Linien der Landfchaft mit den in der Bucht liegenden Segelbooten (Abb. 3) zu-
fammengefügt, zerfd)neiden beherrfchend den Raum und geben ihm eine Feftigkeit
im Aufbau, wie ihn die Natur nicht kennt. In wunderbarer Ruhe und Maffigkeit
liegen die Schiffe, buntbefegelt, gegen einen purpurnen Abendhimmel geftellt, im
ftillen Hafen.
Im dunkeln Jahre 1914, das fo üppig glühend in Gewitterfd)wüle begann und fid)
fo furchtbar vollendete, fängt der geiftige Ausdruck an fid) zu vertiefen; die Stimmung
wird klarer umfd)rieben, aber ernfter und düfterer. In mehreren Strandbildern mit je
zwei weiblichen Geftalten zittert der Geift diefes für die Menfchheit tragifchen Sommers
nad). Diefe Geftalten mit großen nachdenklichen Köpfen und kleinen ausdrucksvollen
fänden bewegen fid) am Meeresgeftade wie in einem Fraumreicl). Sie pflücken Blu-
men, fie wandeln ruhig nebeneinander, fie knien im Sande. In dumpfer Maffe liegt
das Meer, der Sand breitet fid) in fahlen Fönen am Rande hin, da und dort leuchtet
ein fmaragdner Fleck im Gebüfd), die Sonne befd)eint ein Stückchen des gelben
Hanges, aber dumpf laftet der fd)werblaue Himmel, trübe mattrötliche Föne bedecken
das Land. 3arte, blaffe 3wifd)entöne malen die Stimmung weiter aus, die von aus-
drucksfchweren Formen eindringlich angegeben wird. — Die eine der beiden weiblichen
Geftalten (auf einem Bild im Befiß des Herrn Heß in Erfurt), die der Strand angelockt
hat, fud)t npd) der Heiterkeit in der Natur, aber das Lächeln ift auf ihren Lippen
erftarrt. Bei der anderen laften fd)on Flolken auf den gefenkten Augenlidern; es ift,
als wollte fie reden, aber das Flort ift ihr über trüben Gedanken entfd)wunden, als
ftiegen traurig ahnungsvolle Bilder vor ihrem ferngerichteten Blicke auf.
Flie ftark fiel) die formale Seite der Kunft Schmidt-Rottluffs in diefer 3eit weiter-
entwickelt hat. wird an einem weiblichen Akt diefes Jahres deutlich, der in der Freien
Sezeffion ausgeftellt war. Fächerförmig baut fid) die Kompofition von unten auf, in
fid) türmenden Maffen, denen eine mehr flächige, rhombifd)e Form im oberen Feil
entgegengeftellt ift. Mit verfchobener Symmetrie, dod) forgfältig nad) beiden Seiten
ausbalanciert, bietet das Bild mit feinem fo einfachen und alten Motiv einen erftaun-
lid) neuen Reichtum an kubifchen Formen und ftellt zugleich eine meifterhafte Fläcßen-
kompofition dar. Bei aller Strenge des Stiles aber fällt auf, wie bedrängend nah die
Natur felbft vor uns zu ftehen fcheint, wie der Künftler, obgleich er nur den Begriff
der Form wiedergibt, dod) aud) ihre natürliche Hülle mit aller Flaßrheit, ja mit wahrer
Leidenfd)aft erfaßt oder recht eigentlich, um ein Flort Dürers zu gebrauchen, „aus der
Natur herausgeriffen hat“. —
Im Mai 1915 wurde der Künftler einberufen und nahm am Kriege in untergeordneten
Stellungen bis zum Ausgang teil, im erften Jahre die ganzen Strapazen des Vormarfd)es
bis zum Narofchfee durchkoftend. ÜLIas im Jahre 1915 vor der Einberufung entftand,
gehört zum Vollendetften, das dem Künftler gelang. Kein 3weifel, daß folcße Flerke
wie die Dame beim Ausgel)en, das Bildnis Rofa Schapires (beide im Befitj Dr. Nie-
meyers in Hamburg), der weibliche Kopf in der Hamburger Kunfthalle, das Bildnis
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die fiel) in der Hamburger Kunftfmlle und im Befit} 6QilI)elm Niemeyers und Rofa
Sdjapires in Hamburg befinden. Nod) atmet in diefen Flerken eine warme Lebens-
freude und Sinnlichkeit. Ein leuchtendes Goldbraun in den Akten wird durch
glühendrote Umrandung, durch rote, blaue und gelbe Flecken im Grund zu fd)önfter,
leidenfdjaftlicher Flirkung gebracht. Und fd)on ballen fiel) die Formen beftimmter
zufammen, heben fiel) in ftärkerer Plaftik heraus. — 3u ftarken Umriffen haben fid)
die Linien der Landfchaft mit den in der Bucht liegenden Segelbooten (Abb. 3) zu-
fammengefügt, zerfd)neiden beherrfchend den Raum und geben ihm eine Feftigkeit
im Aufbau, wie ihn die Natur nicht kennt. In wunderbarer Ruhe und Maffigkeit
liegen die Schiffe, buntbefegelt, gegen einen purpurnen Abendhimmel geftellt, im
ftillen Hafen.
Im dunkeln Jahre 1914, das fo üppig glühend in Gewitterfd)wüle begann und fid)
fo furchtbar vollendete, fängt der geiftige Ausdruck an fid) zu vertiefen; die Stimmung
wird klarer umfd)rieben, aber ernfter und düfterer. In mehreren Strandbildern mit je
zwei weiblichen Geftalten zittert der Geift diefes für die Menfchheit tragifchen Sommers
nad). Diefe Geftalten mit großen nachdenklichen Köpfen und kleinen ausdrucksvollen
fänden bewegen fid) am Meeresgeftade wie in einem Fraumreicl). Sie pflücken Blu-
men, fie wandeln ruhig nebeneinander, fie knien im Sande. In dumpfer Maffe liegt
das Meer, der Sand breitet fid) in fahlen Fönen am Rande hin, da und dort leuchtet
ein fmaragdner Fleck im Gebüfd), die Sonne befd)eint ein Stückchen des gelben
Hanges, aber dumpf laftet der fd)werblaue Himmel, trübe mattrötliche Föne bedecken
das Land. 3arte, blaffe 3wifd)entöne malen die Stimmung weiter aus, die von aus-
drucksfchweren Formen eindringlich angegeben wird. — Die eine der beiden weiblichen
Geftalten (auf einem Bild im Befiß des Herrn Heß in Erfurt), die der Strand angelockt
hat, fud)t npd) der Heiterkeit in der Natur, aber das Lächeln ift auf ihren Lippen
erftarrt. Bei der anderen laften fd)on Flolken auf den gefenkten Augenlidern; es ift,
als wollte fie reden, aber das Flort ift ihr über trüben Gedanken entfd)wunden, als
ftiegen traurig ahnungsvolle Bilder vor ihrem ferngerichteten Blicke auf.
Flie ftark fiel) die formale Seite der Kunft Schmidt-Rottluffs in diefer 3eit weiter-
entwickelt hat. wird an einem weiblichen Akt diefes Jahres deutlich, der in der Freien
Sezeffion ausgeftellt war. Fächerförmig baut fid) die Kompofition von unten auf, in
fid) türmenden Maffen, denen eine mehr flächige, rhombifd)e Form im oberen Feil
entgegengeftellt ift. Mit verfchobener Symmetrie, dod) forgfältig nad) beiden Seiten
ausbalanciert, bietet das Bild mit feinem fo einfachen und alten Motiv einen erftaun-
lid) neuen Reichtum an kubifchen Formen und ftellt zugleich eine meifterhafte Fläcßen-
kompofition dar. Bei aller Strenge des Stiles aber fällt auf, wie bedrängend nah die
Natur felbft vor uns zu ftehen fcheint, wie der Künftler, obgleich er nur den Begriff
der Form wiedergibt, dod) aud) ihre natürliche Hülle mit aller Flaßrheit, ja mit wahrer
Leidenfd)aft erfaßt oder recht eigentlich, um ein Flort Dürers zu gebrauchen, „aus der
Natur herausgeriffen hat“. —
Im Mai 1915 wurde der Künftler einberufen und nahm am Kriege in untergeordneten
Stellungen bis zum Ausgang teil, im erften Jahre die ganzen Strapazen des Vormarfd)es
bis zum Narofchfee durchkoftend. ÜLIas im Jahre 1915 vor der Einberufung entftand,
gehört zum Vollendetften, das dem Künftler gelang. Kein 3weifel, daß folcße Flerke
wie die Dame beim Ausgel)en, das Bildnis Rofa Schapires (beide im Befitj Dr. Nie-
meyers in Hamburg), der weibliche Kopf in der Hamburger Kunfthalle, das Bildnis
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