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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 12.1920

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Heft 19
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Küppers, Paul Erich: Kubismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.27227#0748

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nur eine Gefe^mäßigkeit gelten, die ftcßtbar und unverhüllt an der Oberfläche liegt.
Das ift durchaus nicht der Fall. In der heutigen höchTt unheiligen Überproduktion an
malerifchen Erzeugniffen begegnen uns zahllofe Bilder, die ihre Ordnung und Ge-
fchloffenheit fchon dem erften flüchtigen Blicke darbieten und dennoch mit Kunft in
unferm Sinne nichts zu tun haben. Denn fleht man genauer hin, fo erweift ficf) die
vermeintliche Ordnung als Anordnung. Sie ift nur Faffade, großfprecherifche Gebärde,
hinter der fiel) das menfcf)liche Manko, die feelifche Leere verbirgt.
Das künftlerifche Gleichgewichtsgefüge — wenn es nicht leichtfertig „gemacht“,
fondern vifionär gefchaut, von ganzer Seele erlebt und gefühlt ift — braucht durchaus
nicht klar und offen vor jedermanns Augen zu liegen. Es kann jenfeits der Pigment-
fchicht bleiben, unfid)tbar, wie ein von üppiger Vegetation umwuchertes Bauwerk. Es
kann auch labil fein, wie in Manets „Rue de Berne“. Aber es hat auch das Recht,
aus dem Meeresfpiegel der Bildfarbe emporzutauchen wie ein hartes Felfengefchiebe,
es darf auch ftabil fein — ja, muß das alles, wenn die Not der 3eit es erfordert.
Die materialiftifche Geifteshaltung der vergangenen Jahrzehnte, diefe 3^it des Ver-
sandes und der wiffenfchaftlichen Eroberungen ließ unter der Hypertrophie der Objek-
tivität nur das finnlich Klahrnehmbare, nur das empirifd) Bewiefene gelten, kannte nur
Natur- aber keine Kunftgefe^e und hatte damit das Gefühl für das Formale, für das
geheimnisvolle Kiefen künftlerifcher Geftaltung verloren. Als man mit der Schärfe des
Verftandes alles Grauenhafte, jenfeitige, Seelifche erbarmungslos ausgelaugt, alles In-
wendige und Myftifche des KIeltgefcf)ehens fyftematifch verneint und diefe Verneinung
durch Gedankenfchlüffe und Vernunftgründe erhärtet hatte — was blieb der Menfchheit
in diefer entgötterten Kielt anders übrig als fid) mit allen Sinnen der äußeren Kielt zu
bemächtigen, da es eine innere nicht mehr gab? Ein ungeheuerlicher Machthunger er-
wachte; eine rafende Gier nach diesfeitigen Klerten, die fchließlicf) im Grauen diefes
Krieges ihre blutigen Saturnalien feierte.
Klem das Sichtbare wefentlicher fcheint als das ünflcf)tbare, das Sinnliche gewiffer
und wertvoller als das Überfinnliche, dem werden die großen fchickfalßaften Kräfte, die
fleh im Kosmos auswirken, auf immer verborgen bleiben. Er wird in der Durch-
dringung der diesfeitigen Kielt fein Heil fucf)en und fle durch Analyfe ihrer Gef)eim-
niffe zu berauben trachten. Er wird alles Sein zerlegen und zerkleinern, wird es in
der Beize feines Intellekts auflöfen und die ganze phyflfehe Kielt zu Atomen und
Ionen zerdenken. Auch der Menfch wird keine Sonderftellung mehr beanfpruchen
können, da auch er wie jede andere Kreatur nur als Glied der biologifchen Entwick-
lungskette zu gelten hat. Auch er ift ja nur ein 3ufammengefe^tes und vielfältig
Bedingtes, und der Pfulofopf) Mach fpricfjt es unbarmherzig aus: „Nicht das Ich ift das
Primäre, fondern die Elemente bilden das Ich“, oder anders: „Das Ich ift unrettbar“.
Indem diefe Kleltanfchauung auf folche Art bis zur reftlofen Atomiflerung allen Dafeins
vordringt und als oberftes Gefet} nur das der Kaufalität gelten läßt, wird fle das Leben
fchließlicf) nur noch als Ballung und 3erfall kleinfter Grundelemente auffaffen. Die
Kielt wird fleh dann als eine Art gewaltigen Kraftgetriebes darftellen, als ein Perpetuum
mobile, das feine konftante Energie unaufhörlich transformiert. Von diefem Stand-
punkt aus gefehen verlieren die Dinge ihre Eigenbedeutung und werden nur noch nach
ihrer funktionellen Abhängigkeit, nur als Komponente der allgemeinen Kraftgefetflicfikeit
gewertet. Nicht ihr abfolutes Sein, ihr inneres Kiefen, fondern nur ihre zufällige Er-
fcheinungsweife, ihr augenblicklicher „energetifefjer Aggregatzuftand“ wird verftanden
werden und man wird fleh damit begnügen, ihre Verwobenheit in das engmafcf)ige

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