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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 12.1920

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Heft 24
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Neue Bücher
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https://doi.org/10.11588/diglit.27227#0950

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Neue Bücher

ftädter Ausftellung und die expreffioniftifche Be-
wegung berichtet.
Andre Salmon: L’art vivant. Diefes Buch,
das durch feinen Litel die Aufmerkfamkeit der
Amateure fefthält, enttäufcht fchon nach der
Lektüre einer einzigen Seite. Statt eine kritifche
Studie der leidenfchaftlichen Atmofphäre in der
Kunft der lebten Jahre zu fein, ift diefes Buch
nur eine Sammlung von Auffäßen eines Jour-
naliften, die in den diverfen Organen erfchienen
find und in welchen allerlei über Kunft und
Künftler ziemlich wahllos zufammengetragen ift.
Plaudereien, Liebenswürdigkeiten für die Künftler
von dem Wohlwollen des Autors diktiert, fcfjließ-
licl) eine Art Einführung in die Beftrebungen
gewiffer junger Künftler aus allen Schulen und
aller äfthetifchen Richtungen. — Sehr fchade, daß
fich der Autor nicht auf die Wiedergabe des
Anekdotifchen aus dem Leben der Maler, die er
fo gut kennt, befchränkt hat. Mit feinem leb-
haften Erzählertemperament hätte er ganz aus-
gezeichnet darüber gefchrieben.
Von ganz anderem Ernft ift das Buch von
Gleizes. Die Strenge, mit der er feinen Stoff
beherrfcht, geht durch das ganze Werk und es
ift nur felbftverftändlich, daß es fcßarfe Dis-
kuffionen und allerhand Kommentare von feiten
maßgebender Autoren hervorgerufen hat. Es
genügt, die leßte Nummer der „Nouvelle revue
fran^aise“ zu öffnen, um fich davon zu über-
zeugen. Man lefe, was Lhote, der anfchließend
an die Debatte, die diefes Buch zur Folge hatte,
indem er gleichzeitig Ausfprüche der geiftvollften
Köpfe unferer Epoche zitiert, in feinem Effay
„Cradition und dritte Dimenfion“ fchreibt:
„Nur zwei Prinzipien ftehen fich gegenüber: Auf
der einen Seite das impreffioniftifche Ideal — an
das fich die fdßechten Nachahmer von Cezanne
anfchließen, dann die faulen Schüler von Sisley
und Monet und die „fauves“, die fich fchließlich
in ihrem bequemen Käßg recht heimifch fühlen —
auf der anderen Seite das kubiftifche Ideal mit
all denen, die auf direkte Naturwiedergabe ver-
zichten. Auf der einen Seite alfo Religion des
Inftinkts, natürliche Begabung, Befreiung von
aller Feffel; Leugnung aller Doktrin, vollkommene
Neuerung — Anarchie —; auf der anderen da-
gegen Refpekt vor künftlerifcher Syftematik und
den Prinzipien der Tradition.“
Lhote bekämpft anläßlich diefes Buches Fjenri
Lognon, der in der Revue Universelle (einer der
geiftvollften modernen Revuen — geleitet von
Leuten royaliftifcher Färbung), das Buch von
Gleizes kommentierend bekennt, „daß die Be-
deutung der kubiftifchen Schule darin beftehe,
daß durch fie bei den Künftlern der Gefchmack

an theoretifchen Erwägungen wieder geweckt
wurde“. Diefer Autor verbreitet fich weiter über
die Aufßndung und Anwendung neuer technifche
Mittel, die jede neue Stilepoche einleiten. Gleizes
fagt in feinem Buche: „Malerei ift die Kunft,
eine Fläche zu beleben. Die Fläche nun ift eine
Welt in zwei Dimenfionen. Ihr eine dritte ein-
zuzwängen, hieße ße ihres wahrften Charakters
berauben.“ Qnd weiter: „Ift es nicht gegen
jede Raifon, daß ein Bild, dazu beftimmt neben
drei dimenfionalen Objekten zu beftehen, in der
optifchen Illufion, diefe dritte Dimenfion fortfetjt,
ftatt Bild felbft zu bleiben. In der Cat ift es
Aufgabe des Malers, in zwei Dimenfionen das
zum Leben zu erwecken, was er interpretiert,
nämlich die Realität mit ihren drei Dimenfionen
und nicht die, diefe drei Dimenfionen durch
feine Interpretation mehr oder weniger vor-
täufchen zu wollen.“ Darauf erwidert Fjerr
Longnon: „Jede Form, die durch die Natur ge-
geben ift, befitjt drei Dimenfionen Fjöhe, Breite
und Liefe und jede Kunft, die diefe Form in
ihren effentiellen Qualitäten zum Ausdruck bringen
will, muß die Idee diefer drei Dimenfionen wieder-
geben.“ Und weiter: „Die Materie Ingres’ mag
ebenfo geeignet fein (wenn auch weniger fchön
als eine andere), um fjöhe und Breite der Ob-
jekte darzuftellen — fie ift ungeeignet, deren
dritte Dimenfion zu vermitteln — Relief und
Liefe. Sie aboliert alfo das Volumen, das effen-
tielle Element plaftifcher Darftellung; Die Qnter-
drückung einer fo wichtigen Funktion bewirkt,
daß die neuen Formen, die uns Ingres enthüllt
hat, nur in zwei Dimenfionen fpielen — der Qöhe
und der Breite und daß Relief und Liefe ihnen
abgehen. Sie erfcheinen dadurch paradoxal, ja
felbft verftümmelt. Welchen inneren Wert kann
folche Formenanalyfe haben, die mit folcher
Methode und mit folctjen Mitteln ans Werk
geht?“ Lhote kommt zu dem Ergebnis, daß es
Cezanne als erftem gelang, Liefe zu fuggerieren
ftatt fie einfach zu imitieren, und er fragt fich:
„Können wir für die dritte Dimenfion kein
Äquivalent geben?“
Was „Lradition“ anbelangt, möchte ich trotj
der dunklen Ausdrucksweife, in die er feine De-
finition hüllt, Lhote hier zitieren: „Angewandte
Auflehnung, dabei difzipliniert und bewußt, die
nicht zu voller Befreiung führt, jedoch zur An-
wendung neuer oder — da fich alles wieder-
holt — felbft ganz alter Regeln führt.“
Ich erfuche den Lefer, fich einftweilen mit
diefer Andeutung einer leidenfchaftlichen Dis-
kuffion zufrieden zu geben. Ich behalte mir vor,
in nächfter 3eit über Kunftdoktrinen, über Cra-
dition, über Individualismus in der Kunft und

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