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Heidelberger Zeitung (47) — 1905 (Juli bis Dezember)

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Nr. 256-281 (1. November 1905 - 30. November 1905)
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Donnerstag, 2. November 1905.

Erstes Blatt.

47. Jahrgang. — Nr. 257.

"rscheint täglich. Sonntagr aurgenommen. Preir mit Familienblättern monatlich 50 Pfg in's HauS gebracht. bei ber Erpedition und den Zweigstationen abgehol? 40 Pia Durch die

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n destimmten Taaen wird keine Berantwortlichkeit übernommen. — Anschlag der Jnserat« anf den Plackattafeln der Heidelberger Zeitimq nnd d,n - Aa>ch>»:,',.n.a F',n«precher 38.

Das Zaren-Manifest.

. Auch nach Verkündigung des Verfassungsmanifestes
Zaren sind die Znstände in Rußland noch recht kri-
Man konnte sich übrigens denken, daß die Beruhi-

tisch

mit einem, Schlage eintreten würde. Wohl hat
. ^ Manifest stark gewirkt, aber' erst die nächsten Tage
^rdea zeigen, ob es die Zur Siedehitze gesteigerte politrsche
.^rnp^ratur Rnßlands, auf einen normalen oder wenig-
ens erträglichen lGrad herunterzudrücken vermocht hat.
,^r Wille des Zaren ist gut, ebenso derjenige Wittes;
der Es fehlt an geschulten Leuten, weiche die neuen Jdesn
erwirklichen helfen. Diejenigen, die es könnten, wollen
^rcht. Di^ aiird sehr drastisch beleuchtet durch einen
„Frankf. Ztg." zugegangenen Bericht über Gespräche
re Witte nnt verschiedenen Abordnungen am Dienstag
^^hrt hat.

,i> ^ dl» diesem Tage suchten Vertreter des Verbandes der
^rrbäade oen Grasen Witte auf, um Aufklärung von ihm
"^gen der Beschießung des technologischen Jnstituts zu
rhalten. Dabei entwickelte sich das nachfolgende Ge-
, dräch: Witts sagte, er könne ohneHilfederGe-
E^hschast nichts machen. Auf die Erwiderung, es
ststne aicht nur auf die sogenannte Gesellschaft an, son-
^n auf Besriedigung der Forderungen der a r b e i t e n-
^ri Klassen, weil erst dann Beruhigung ins Land kom-
en werde, sagte Witte, das sei auch seine Ansicht und
» Machte dabei die solgende bedeutungsvolle Bemer-
er wolle in die Duma kommen, seine Macht
ledsrlegen und s-agen: „T u t, was Jhr für
^sMohldes unglücklichen Rußland-s

^ notwendig erachtet!" Um aber bis zur
^Uma dem Lande Beruhigung zu bringen, müsse er oas
^^rtrauen Ler Gesellsch-ast genießen und das sei nicht der
sinll. Er hätte sich an einige bekannte Männer
Nt der Bitte um Hilfe gewandt, habe aber bis jetzt keine
. st immende Antwort erhalten. Die Deputa-tion er-
^werts, anch die Hilfe angesehener Männer des liberalen
^ises würde wenig helfen, wenn die Forderung des
^ lleineinen und direkten Wahlrechts, die seitens des
. ?Ees anfgestellt sei, nicht besriedigt werde. Witte nahm
^derum das Wort und sagte, auch er stelle die For-
drung her Arb-eiter in bie erste Linie und er sei nicht
^8ea das allgemeine Wahlrecht, er meine nur, das Wahl.

solljg „jchj oon der Regierung, sondern der Reichs-
^n>a vroklamiert werden. Er wolle aber sosort das
i , ^ ^ 8 esetz vom 6. August umändern und die
^Higenten Kreise der Arbeiter wahlberechtigt machen.

Wort. Was

^ - -- -, ^ --

das sei aber nicht sein letztes

^ ^sse anbetrifft, könne sie alles sagen
^ Ausführung eines Gesetzes über die

die
Bis
Preßfrei'heit

die Z e n s u r s a k t i s ch a bge s ch a f f t sein. Die

^tlvendigkeit einer Amnestie erkenne er an, aber er
^ einiger Zeit, nm ein Gesetz über die Amnestie
^szuarbeiten. Die Bestimmnngen über den verschärften
fen ^ ^ien Unsinn, aber er könne sie nicht gleich ab-schaf-
sj?' wenn nach der Abschaffung ein Attentat pas-
werde man sa-gen, er sei daran schuld.

Grabschrift

dem Friedhof der Mtei-Ruine zu Melro s e,

^ Schottland.

^ -om 'Englischen übersetzt von G. S., Heiüelberg.)
Crde zieht über die Erde: in Gl-anz und in> Gold;
Erde sinkt nieder zur Erde: früher als sie wollt';
Crde baut stolz auf der Erde: Schlösser und Zinnen;
Crde rafft — Erde zur Erde: Alles von hinnen.

Stadttheater.

Heidelberg,2. November.
ü t t e n b e s i tz e r", Schauspiel in 4 Akten von

bekannte Roman des Hüttcnbesitzers, die Geschichte einer
äm' zN>ei eigenwillige, stolze Menschen erst durch eine Reihe
Ncich ^,!ck>er Ereignisse dazu kommen, einander zu finden, wurde
Pause von einigen Jahren wiederum hier gespielt.
sehx^ von einer Analyse des allbekannten Schauspiels ab-

sen '^llnügen wir unS cinen Blick auf die Darsteller zu wer-
Noch haben den Philippe Derblay des Herrn Rudolph
Hattun Erinnerung: er war sehr männlich, von sehr guter
Ess„,8 und sehr eindringlich in der Darstellung. Herr
Claix^ einen schweren Stand neben Frl. Decarli als

Nicht F hatte oft etwas Schlaffes im Vortrag, er war auch
E s s . st^ant genug (er obermeierte sozusagen etwas). Herrn
^äre ^s nicht "" rechteni Gefühl und Geschmack, nur

äu bewußtere Ausnutzung seiner schönen Gaben

ÄestolL Fri. DecarIi belebte durch scharfe, plastische

oie Figur der Claire. Sie hat eine sichere Dynamik

Jm Lauf-e des Tages sprachen noch verschiedene an-
dere Organisationen bei Witte vor. Sie verlangten vor
allen Dingen A m n e st i e und betonten Witte gegenüber,
man erwarte Taten nicht Worte. Man könn-e den
Regierungserklärungen nich-t trauen, nachdem üas
kaisertiche Manifest der Bevölkerung von der Polizei vor-
enthalten und abgezwungen sei. Witte sagte wiederholt
zu, die Amnestie werde wahrscheinlich in diesen Dagen
proklamiert, Ausn-ahmegesetze und verstärkten Schutz
könne aber die Rsgierung nicht abschaffen. Bei der Auf-
regung der Gemüter sei das unmöglich.

So weit man bis jetzt sieht, hat das Manif-est am
wenigsten in den polnischen Städten gewirkt, wo die poli-
tische Böwegnng Hand in Hand mit der nationalen- geht.
Jn den russischett Städten ist die Wirkung stärker. Dort
scheint sich eine Scheidung zu vollzi-ehen zwischen denen.
die es ernst mit einem normalen Verfassungsleben mei-
nen, und den unentwegten Revolutionären. A-ber noch
viel Mißtrauen ist zu überwinden.

Deutsches Reich.

— Zur Abordnung des Städt-etages hat sich, wie schon
gemeldet, der Reichskanzter über die Fleischnot so aus-
g-esprochen, wie in feinem Antwortschreiben auf die An-
srage wegen einer Audienz. Er sagte u. a.: Sollten
Fleischmangel und zu hohe Fleischpr-eise festg-estellt wer-
den, so frage es sich weiter, ob die Oeffnung der Grenzen
ein taugliches Mittel sei, und ob sie sich ohne Gesahr der
Seucheneinsck)leppung durchführen lasse. Also sür den
Reich-skanzler ist noch garnicht -einMal festgestellt, ob
Fleischnot und zu hohe Fleischpreise existieren. Das heißt
doch absichtlich die Augen schließen. Zum Schlutz empsahl
Fürst Bülow den Herren, dem Beispiele der Stadt Wien
und den Anregungen der preußischen Landwirtschafts-
kammern zn solgen und ihrerseits in der gegenwärtigen
kritischen Lage die Fleischversorgung ihrer
Städte in die Hand zu nehmen. Oberbürger-
meister Kirschner hob in sein-er Erwiderung hervor,
Keiner der Anwesenden werde eine Maßregel befürwor-
ten, durch wetche d-er Bestand des 'deutsch-en Viehstandes
gefährdet werde. Man sei aber in städtischen Kreisen
überzeugt, daß sich Maßregeln treffen lassen, w-elche den
Notstand beseitigen oder mildern, ohne den deutschen
Vichstand zu gefährden- Eine solche Maßregel sei die
Einfuhr von fremdemi Nich in Schlachth-äusern an der
Grenz-e, wie si-e in Oberschl-esien tatsächlich ohn-e jede Ge-
f-ahr stattfinde. Es werde in städtischen Kreis-en nicht
verstanden, daß diese Einsuhr nicht einmal in einer Aus-
dchnnng gestattet werde, wie sie am 1. März 1906 ver-
tragsmäßig stattsinden werd-e. Bei der sich anschließ-enden
eingehenden- Aussprache ergab sich die Ue b e r e i n st i m-
mung der Vertreter der übrigen Städte mit
den Ausführnngen ides Oberbürgermeisters Kirschner.
Oberbürgernreister Beutler wünschte für Sachsen, daß die
in Bodenbach nach dem österreichischen Handelsvertra-gc
vom 1. März 1906 ab zngelassenen S-chlachtungen für die
sächsische Einfuhr schon jetzt g-estattet wllrden und in eine

der Geste und Sprache, sie führte ihre Rolle mit guter Stetig-
keit durch. Autzerdem hatte sie im Auftreten das Wesen der
grotzen, vornehmen Dame. Ein Gleiches kann man von der
Marquisin-Mutter des Frl. Hinrichs rühmen, denn Haltung
und Aeutzeres gaben die Jlluston einer vornehmen älteren
Französin. — Ein sehr eleganter Lebemann (mit vorzüglicher
Maske) war Herr Saltenburg; immer wieder muh man
die dezente Art dieses Darstellers anerkennen. Sein Herzog
von Bligny brachte etwas von Pariser Luft auf die Bühne.
Schlicht und der Rolle angemessen hielt sich Herr Haah als
Baron Prefont. — Herr Hartberg schuf mit ein paar
sicheren Strichen die sympathische Figur deS Aotars Bachelin,
des bewährten Ratgebers der Familie. ^— Octave nnd Suzanne,
das Paar, in dem sich Adel und Bürgertum in Liebe zu ein-
ander sinden, wurden frisch, anmutig und liebenswürdig ge-
spielt von Herrn Wendeborn und Frl. Kellermann.
Die Karikatur des Parvenüs, die Figur deS Moulinet, spielte
ohne Uebertreibung und doch wirksam Herr B a u m. Jn der
Darstellung recht brav, jedoch nicht elegant gcnug, war Frl.
Branden als impertinente Athenais. Ein wenig ungeschickt
in der Haltung und nicht ganz glücklich in der Sprache war
Frl. Jlling. Sie war offenbar schlecht disponiert. — Das
Haus war sehr gut besetzt. K. W.

Parsifal-Vortrag.

Heidelberg, Len 2. November.

Gestern Abend wurde im Kammermusiksaal der Stadthalle
ein gewagtes Experiment unternommen. Zum Besten des
Richard Wagner-Stipendienfonds — ich nehme das an, das
Progrannn lieh im Unklaren darüber — las Prof. W. Him -
melreich aus Cberbach Richard Wagners „Parsifal" vor.
Die Stiftung, die bekanntlich den idealen Zweck verfolgt, un>
bemittelten Künstlern den Weg riach Bayreuth zu ebnen, will

alsbaldige Revision des Fleischb-eschauges-etzes eingetreten
möge. Erster Bürgermeister v. d. Borscht steMe einen
Antrag der lbayerischen Regierung auf sosortige Zulassung
Les für Bayern vom 1. März 1906 ab eintretenden Kon-
tingents von 50 000 Schwein-en in Aus'stcht und bat um
dessen Genehmigung, Exz-ellenz B-ack einen gleichen An»
trag dsr elsaß-Iothringischen R-egierung auf Oeffnung
der srauzösischen Grenze für die Einfuhr von Schweinen.

Baden.

Freiburg, 1. Novbr. Ms Vertreier der der
Städteordnung unterstehend-en- Städte in der Ersten Kam-
mer sind der hiesige Oberbürgermeister Winierer und
Oberbürg-er-meister Beck in Man-nheim in Aussicht ge-
nommen. Wahlberechtigt sind Bürgermeister und Städt-
rät-e der der Städteordnung unterstehenden Städte.

Aus der Karlsruher Zeirung.

— Seine Königliche Hoheit der Grotzherzog haben dem
Oberschlotzhauptmcmn Wilhelm Freiherrn v. Seldencck die
Erlaubnis zur Annahme und zum Tragen des ihm berliehenen
Komthurkreuzes mit Stern des Grohherzoglich Sächsischen-
Haus-Ordens der Wachsamkeit oder vom weihen Falken, dem
Hoteldirektor Hermann Baumgärtner in Paris die Er-
laubnis zur Annahme und zum Tragen des ihm verliehenen
Offizierkreuzes des Persischen Sonnen- und Löwenordens er-
teilt.

— Betriebssekretär Bernhard Heng in Schwankenreuthe-
wurde zum Stationsverwalter daselbst ernannt, Betriebsasft-
stent Mathias Lind in Bretten nach Mannheim versetzt.

Aus Stadt und Laud.

Heidelberg, 2. November.

X Die evangelische Pfarrsynode der beiden Städte Mann -
heim und Heidelberg fand gestern, Mittwoch, in der
Sakristei der hiesigen Peterskirche statt und nahm einen höchst
angeregten und interessanten Verlauf. Zur wissenschaftlicherr
Verhandlung lag zunächst die Frage vor: „Wie verhalten sich
die sittlichen Forderungen Jesu zu den Anfor-
derungen unserer Zeit?" Man weitz, dah es be-
sonders O. Friedrich Naumanns Gedanken von der Not-
wendigkeit einer völligen Trennung bon Politik und Morach
insbesondere über die engere Begrenzung des kulturellen Ge-
sichtskreises Jesu, gewesen sind, die der Gegenwart die bren-
nende Frage vorlegten: Lassen sich auch alle heutigcn, dem
ersten Christentum so fernliegenden Gebiete
wie Politik, Kunst, höhere Kultur wirklich nach „christlichen"
Grundsähen betreiben? Die gestrige Shnode kam über der Er-
örterung dieser Frage zu sehr wichtigen Sätzen von der zeit -
geschichtlichen Bedingtheit einzelner Gedanken
Jesu, aber auch von der Zweifelhaftigkeit gewisser heute mit
grotzem Nachdruck vertretener politischer und ökonomischer
Theorien. Allseitig wurde übrigens eine äuherliche Ge-
bundenheit unserer Gesinnung an einzelne Aussprüche Jesn
abgewiesen; andererseits aber der unüberbictbare Wert
seiner Persönlichkeit auch für die ganze Kultur der Ge-
genwart anerkannt. — Die zweite Frage: „Wie ist der Un-
terschied zwischen Protestantismus und Ka-
tholizismus volkstümlich zu behandeln?" zeigts
die rege Lebendigkeit, mit der der religiöse Gegner des Prote-
stantismus beobachtet und an der möglichst klaren Erfassung
des tiefen tlnterschieds zwischen diesem und jenem gearbeitet
wird. — Nach dreistündiger tiefgehender Besprechnng der beiderr
Themata, zu denen ausführlichere Arbeiten vorlagen, ver-
einigte noch ein gemeinsames Ma h l die Kollegen der
zwei Nachbarstädte.

den teilweise recht hählichen Anfeindungen derer, die durchauK
die „Entweihung" des letzten grohen Werkes Wagners durch-
setzen wollen, eine Schranke in den Weg bauen. Es soll auf
diese Weise nicht nur der reiche Nabob, sondern auch der weniz
Begüterte des künstlerischen Genusses Fähige die Schöpfung
an der geweihten Stätte auf sich wirken lassen können.

Dah es besonders glücklich oder gar ini Sinne des grotzen
Meisters gewesen ist, gerade unter der Flagge eben dieser
Stiftung den Parsisal allein vorzulesen und ihn so all der
Mittel, in Gemeinschaft mit welchen er allein wirken kann, zu
berauben, scheint mir nicht der Fall zu sein. Es wäre ver-
dienstvoller gewesen, das Werk mit. Erläuterungen am Klavier,
wie es übrigens jeht schon häufiger geschieht, wiederzugeben.
da dies dann gleichzeitig eine instruktive Vorbereitung zum
leichteren Verständnis der äutzerst schwierigen Musik geweserr
wäre. Obwohl Richard Wagner, wie er sich dessen auch wobl
bewuht gewesen, ein groher Dichter gewesen ist, so verlangt die
Dichtung troh ihrer mannigfaltigen und wunderbaren intimen
Schönheit doch immer nach Plastik und Musik, womit üe zu
eng verknüpft ist. Und überhaupt wirkt ja die Vorlesung eineS
Dramas ohne Rollenverteilung mit der notwendigen jedes-
maligen Nennung der sprechenden Personcn und der Szenerie-
beschreibung stimmungsmordend und lähmend auf den Zu-
hörer.

Das Publikum schien dieser Veranstaltung ebemalls s-ep-
tisch gegenüberzustehen, denn die Reihen im Saal wiesrn ganz
bedenkliche Lücken auf.

Herr Professor Himmelreich hatte stch mit Liebe und sicht.
licher Vertiefung um den Stoff seiner Aufgabe angenommen
und verhalf durch treffliche Charakteristik dem Werk, so weit
dies überhaupt möglich war, zum Erfolg. HelioS.
 
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