Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 12.1920
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https://doi.org/10.11588/diglit.27227#0074
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Heft 2
DOI Artikel:Cohen-Portheim, Paul: Asiatischer und europäischer Geist in der Kunst, 2
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ift die Symbolik, die der Intuition entfpringt, der Ein[icßt, daß „alles Vergängliche nur
ein Gleichnis ift“. — Chorus myftikus!
Es bleibt fid) darum ganz gleich, was diefe Kunft darftellt, und fie [teilt mit Vor-
liebe gerade die gewöhnlichsten und niedrigften Dinge dar. — Beim Anblick der größten
Dinge empfindet Schließlich ein jeder das Gefühl der Größe und der Ewigkeit. Der
Himalaja oder der Ozean und das Riefenhafte in der Kunft find zu allen 3eiten und
bei allen Menfcßen ihrer Wirkung ficher. Das primitive Gefühl drückt feine Kleltangft
in den Riefenfymbolen der affyrifchen Cherubim, in der Sphinx und in der Pyramide
aus, die Intuition hat die Klirklicßkeit durchfd)aut und die Sinnenwelt überwunden,
darum wird ihr alles zum Symbol. Sie hat die Einheit und Ällgegenwart des Geiftes
gefühlt, und fie fieht ihn gleichwertig in allem. Jede Naturform ift ihr eine Hülle,
durch die der Geift leuchtet, und es ift ihr gleich, ob fie einen Bambushalm oder den
Buddha darftellt, denn beide find ihr gleichwertige Symbole des einen Geiftes. So ift
„jedes Kunftwerk [ymbolifcß und weift über fid) felbft hinaus“ und darum „malt der
Japaner einen Blütenzweig, und er ift der ganze Frühling“.
Ulir [eben alfo, daß im lebten Grunde der önterfeßied des afiatifeßen und des euro-
paifeßen Kunftideales auf dem verfeßiedenen Glauben berußt. In diefem Sinne ift die
Kunft immer Ausdruck der „Religion“. Europa glaubt an die Materie, Afien an den
Geift. Die europäifeße Kunft feit der Gotik hat die Geifteswelt geleugnet, da aber jede
Kunft, wie überhaupt alles Menfcßenftreben ftets Einheit fueßt, fo ßat fie Einfühlung
in die Außenwelt, Vereinigung mit der Klirklicßkeit zu erreichen gefueßt. Kunft ift aber
Geift, der fid) in Materie manifeftiert und Geift kann ficß nur mit Geift vereinigen;
fueßt er in der Sinnenwelt aufzugehen, fo ftirbt er an dem Verfucße.
Darum lag um die Jahrhundertwende die europäifeße Kunft im Sterben. RJoßl nie
ßat es eine Seit gegeben, in der die Kunft eine fo geringe und fo unwürdige Rolle
gefpielt hätte. Die aßatifcße Kunft war Angelegenheit des ganzen Volkes, der Künftler
unterfeßied fieß nur durcß größere, feßöpferifeße Begabung von den anderen. Darum
(und nicht wegen einer befonderen, „kunftgewerblicßen Begabung“) ift dort jeder Ge-
braueßsgegenftand ein Kunftwerk; felbft dem geringften Handwerker war es unmög-
lich, einen Gegenftand ßerzuftellen, der bedeutungslos gewefen wäre. Das künft-
lerifcße Gefüßl zeigte fid) in der Kleidung, in dem Gefcßirr, in jedem Haus, mit allem,
was es enthielt; wollte man aber ein Feft feiern, fo entrollte man ein Bild und hing
es an die Kland (wie fein ift die Kunftliebe, die den Genuß nicht durcß immer-
währendes 3ufammenfein mit dem Kunftwerk abftumpfen will), [teilte eine Vafe mit
Blumen, die mit dem Bilde übereinftimmten, vor dasfelbe, und lud dann feine Freunde
ein, den Genuß zu teilen. Kunft dureßdrang den Alltag, ßöcßfte Kunft bot der Fefttag.
Im „wiffenfcßaftlicßen 3eitalter“ war die Kunft aus dem Leben des Volkes ver-
feßwunden. In grotesk-häßlicßen Mietskafernen wohnten gefcßmacklos gekleidete Men-
feßen (am Gefcßmacklofeften, wenn fie fid) zum Feiertag gefcßmückt hatten); ißre Möbel,
ißr Gefcßirr, alles was fie umgab, war in Form, in Farbe, in Qualität und in Material
eine einzige Codfünde wider den heiligen Geift der Kunft. Die Reichen waren „kunft-
liebend“, d. ß. fie kauften fid) Bilder von einem berühmten Künftler, wie fie fid) Schüße
von einem berühmten Schuhmacher kauften. Sie konnten es ficß fogar leiften, jemand
zu bezahlen, damit er den ißnen felbft fehlenden Gefcßmack und „Kunftfinn“ liefere,
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ein Gleichnis ift“. — Chorus myftikus!
Es bleibt fid) darum ganz gleich, was diefe Kunft darftellt, und fie [teilt mit Vor-
liebe gerade die gewöhnlichsten und niedrigften Dinge dar. — Beim Anblick der größten
Dinge empfindet Schließlich ein jeder das Gefühl der Größe und der Ewigkeit. Der
Himalaja oder der Ozean und das Riefenhafte in der Kunft find zu allen 3eiten und
bei allen Menfcßen ihrer Wirkung ficher. Das primitive Gefühl drückt feine Kleltangft
in den Riefenfymbolen der affyrifchen Cherubim, in der Sphinx und in der Pyramide
aus, die Intuition hat die Klirklicßkeit durchfd)aut und die Sinnenwelt überwunden,
darum wird ihr alles zum Symbol. Sie hat die Einheit und Ällgegenwart des Geiftes
gefühlt, und fie fieht ihn gleichwertig in allem. Jede Naturform ift ihr eine Hülle,
durch die der Geift leuchtet, und es ift ihr gleich, ob fie einen Bambushalm oder den
Buddha darftellt, denn beide find ihr gleichwertige Symbole des einen Geiftes. So ift
„jedes Kunftwerk [ymbolifcß und weift über fid) felbft hinaus“ und darum „malt der
Japaner einen Blütenzweig, und er ift der ganze Frühling“.
Ulir [eben alfo, daß im lebten Grunde der önterfeßied des afiatifeßen und des euro-
paifeßen Kunftideales auf dem verfeßiedenen Glauben berußt. In diefem Sinne ift die
Kunft immer Ausdruck der „Religion“. Europa glaubt an die Materie, Afien an den
Geift. Die europäifeße Kunft feit der Gotik hat die Geifteswelt geleugnet, da aber jede
Kunft, wie überhaupt alles Menfcßenftreben ftets Einheit fueßt, fo ßat fie Einfühlung
in die Außenwelt, Vereinigung mit der Klirklicßkeit zu erreichen gefueßt. Kunft ift aber
Geift, der fid) in Materie manifeftiert und Geift kann ficß nur mit Geift vereinigen;
fueßt er in der Sinnenwelt aufzugehen, fo ftirbt er an dem Verfucße.
Darum lag um die Jahrhundertwende die europäifeße Kunft im Sterben. RJoßl nie
ßat es eine Seit gegeben, in der die Kunft eine fo geringe und fo unwürdige Rolle
gefpielt hätte. Die aßatifcße Kunft war Angelegenheit des ganzen Volkes, der Künftler
unterfeßied fieß nur durcß größere, feßöpferifeße Begabung von den anderen. Darum
(und nicht wegen einer befonderen, „kunftgewerblicßen Begabung“) ift dort jeder Ge-
braueßsgegenftand ein Kunftwerk; felbft dem geringften Handwerker war es unmög-
lich, einen Gegenftand ßerzuftellen, der bedeutungslos gewefen wäre. Das künft-
lerifcße Gefüßl zeigte fid) in der Kleidung, in dem Gefcßirr, in jedem Haus, mit allem,
was es enthielt; wollte man aber ein Feft feiern, fo entrollte man ein Bild und hing
es an die Kland (wie fein ift die Kunftliebe, die den Genuß nicht durcß immer-
währendes 3ufammenfein mit dem Kunftwerk abftumpfen will), [teilte eine Vafe mit
Blumen, die mit dem Bilde übereinftimmten, vor dasfelbe, und lud dann feine Freunde
ein, den Genuß zu teilen. Kunft dureßdrang den Alltag, ßöcßfte Kunft bot der Fefttag.
Im „wiffenfcßaftlicßen 3eitalter“ war die Kunft aus dem Leben des Volkes ver-
feßwunden. In grotesk-häßlicßen Mietskafernen wohnten gefcßmacklos gekleidete Men-
feßen (am Gefcßmacklofeften, wenn fie fid) zum Feiertag gefcßmückt hatten); ißre Möbel,
ißr Gefcßirr, alles was fie umgab, war in Form, in Farbe, in Qualität und in Material
eine einzige Codfünde wider den heiligen Geift der Kunft. Die Reichen waren „kunft-
liebend“, d. ß. fie kauften fid) Bilder von einem berühmten Künftler, wie fie fid) Schüße
von einem berühmten Schuhmacher kauften. Sie konnten es ficß fogar leiften, jemand
zu bezahlen, damit er den ißnen felbft fehlenden Gefcßmack und „Kunftfinn“ liefere,
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