Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929
Cite this page
Please cite this page by using the following URL/DOI:
https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0057
DOI article:
Doesburg, Theo van: Farben im Raum
DOI Page / Citation link:https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0057
ben (rot, blau, gelb) jede für sich eine eigene
Energie vertreten, so vertreten auch die moder-
nen Materialien (Beton, Eisen, Glas) jedes für
sich eine eigene Energiekraft. Blau und Gelb etwa
bilden zwei vollständig entgegengesetzte Ener-
gien. Diesen Gegensatz nenne ich: eine Span-
nung. Eine ähnliche Spannung bilden die
zwei Materialien Eisen und Glas. Die Wertung
dieser Spannungen in Raum und Zeit ist gerade
so „ästhetisch" und architektonisch, wie die
Wertung zweier Farben auf der Fläche oder im
Raum.
Um uns über die Anwendung der Farben im
Raum (wenn wir den Begriff „Zeit" vorläufig
nicht berühren wollen) richtig zu orientieren,
müssen wir uns darüber klar werden, welches die
verschiedenen Möglichkeiten sind, die Maierei
mit der Architektur zu verbinden. Die Anwen-
dungsmöglichkeiten sind folgende:
die dekorative ornamentale,
die rationalistische oder konstruktive,
die schöpferische oder gestaltende.
Bei einer dekorativen Anwendungder
Farben handelt es sich nur um eine ge-
schmackliche Wirkung der Farben im Raum. Mit-
tels der Farbe (Ornament) wird der Raum ge-
schmückt, und zwar ohne organischen Zusam-
menhang mit der Konstruktion. Die Farbe dient
nur dazu, die Konstruktion zu verhüllen. (Der
holländische Architekt Berlage hat sogar in sei-
nen Schriften die Stelle angegeben, wo das
Ornament in der Architektur angebracht werden
soll.) Konstruktion und Malerei stehen in keinem
wesentlichen Zusammenhang, sie existieren
nebeneinander, anstatt durcheinander und rufen
daher keine „synoptische" Wirkung hervor. Das
Prinzip des Dekorativen und Ornamentalen be-
ruht grundsätzlich auf der Wiederholung eines
Motivs, eine Wiederholung, die durch den Fak-
tor „Zeit" hervorgerufen ist. Die Lösung der
Farben in der Architektur ist iden-
tisch mit der Lösung des Zeitmo-
ments in der Malerei.
Erst heute, im zwanzigsten Jahrhundert,
haben wir begriffen, daß es auf geistiger Armut
beruht, wenn man die Lösung in der Repetierung
des Ornaments sucht. Der orientalische Tep-
pich, und die daher abgeleitete Tapete, sind dem
gleichen Prinzip der Wiederholung unterworfen.
Jede Malerei, die sich im Raum fortsetzt, also
in zeitlicher Ausbreitung begriffen ist, war von
jeher durch Wiederholung charakterisiert. Das-
selbe gilt für die Malerei wie für die Architektur,
für die Musik und die Dichtung. Das Problem ist
unverändert geblieben, nur die Mittel und die
Ausdrucksmöglichkeiten haben sich geändert.
Sie sind statt illusionistisch, real geworden. Die
Wiederholung eines musikalischen Themas ist
genau so dekorativ, als die regelmäßige Wieder-
kehr bestimmter Bauteile. Der Begriff der Sym-
metrie, der selbst heute noch von modernen Ar-
chitekten (le Corbusier, Loos, Oud) aufrecht ge-
halten wird, wurzelt ebenfalls im Prinzip des De-
korativen und Ornamentalen.
Als Reaktion gegen den Dekorativismus er-
klang etwa 15 Jahre lang der Ruf „zurück zu
rationeller Konstruktion", „nieder mit dem Orna-
ment"! Man sah das Ornament als Verbrechen
an und bannte die Farbe vollständig aus der
Architektur. Man schuf nur noch „grau in grau".
An der Grenze der Konstruktion hörte die Welt
der Farbe auf. Die Architektur wurde nackt:
Knochen und Haut.
Schon früher (um 1918) habe ich diese Archi-
tektur, der es nur um die nackte Struktur geht,
die „anatomische" genannt. In Deutschland
sprach man auch tatsächlich von einer Knochen-
und Hautarchitektur, und man wollte weder von
ästhetischer Spekulation noch von Form- oder
Gestaltungsproblemen etwas wissen. Das Ge-
sunde dieser Bewegung war die Uberwindung
der Form in der Architektur. Die neue Definition
der Architektur lautete: funktionsgemäße Orga-
nisierung der Materialien. Form war sekundär,
nebensächlich. Für Farbe war kein Platz. Mit
der Malerei hat man „abgeschlossen".
Die Russen aber waren die ersten, die zur
Malerei, und sogar zur Part pour l'art zurückgrif-
fen. Später (oder besser gesagt: in der Praxis)
sah man ein, daß diese elementare, graue Archi-
tektur ausdruckslos, „blind" war. In fanatischer
Verherrlichung der Nur-Utilität und des Nur-
Funktionellen, hat man sich nur auf das Prak-
tische und Faktische beschränkt, und die opti-
schen, taktilischen und geistigen Bedürfnisse
vollständig negiert. Das Bedürfnis nach Farben
ist den modernen Menschen genau so unentbehr-
lich, wie das Bedürfnis nach Licht, Bewegung
(Tanz), ja sogar Lärm. Das sind wesentliche
Lebensfaktoren des modernen Menschen, des
modernen „Nervensystems" geworden.
Jeder Erneuerungsversuch, der nur einen be-
stimmten Faktor betont und um diesen alle ande-
ren Faktoren negiert, ist arm und stirbt. So muß
auch der Utilitarismus zugrunde gehen, wenn er
nicht zur Anerkennung unserer geistigen Bedürf-
nisse zurückkehrt. Die Nützlichkeitsromantiker
wollten aber nur dann die Farbe anerkennen,
wenn sie nützlich war, und so entstand die zweite
35
Energie vertreten, so vertreten auch die moder-
nen Materialien (Beton, Eisen, Glas) jedes für
sich eine eigene Energiekraft. Blau und Gelb etwa
bilden zwei vollständig entgegengesetzte Ener-
gien. Diesen Gegensatz nenne ich: eine Span-
nung. Eine ähnliche Spannung bilden die
zwei Materialien Eisen und Glas. Die Wertung
dieser Spannungen in Raum und Zeit ist gerade
so „ästhetisch" und architektonisch, wie die
Wertung zweier Farben auf der Fläche oder im
Raum.
Um uns über die Anwendung der Farben im
Raum (wenn wir den Begriff „Zeit" vorläufig
nicht berühren wollen) richtig zu orientieren,
müssen wir uns darüber klar werden, welches die
verschiedenen Möglichkeiten sind, die Maierei
mit der Architektur zu verbinden. Die Anwen-
dungsmöglichkeiten sind folgende:
die dekorative ornamentale,
die rationalistische oder konstruktive,
die schöpferische oder gestaltende.
Bei einer dekorativen Anwendungder
Farben handelt es sich nur um eine ge-
schmackliche Wirkung der Farben im Raum. Mit-
tels der Farbe (Ornament) wird der Raum ge-
schmückt, und zwar ohne organischen Zusam-
menhang mit der Konstruktion. Die Farbe dient
nur dazu, die Konstruktion zu verhüllen. (Der
holländische Architekt Berlage hat sogar in sei-
nen Schriften die Stelle angegeben, wo das
Ornament in der Architektur angebracht werden
soll.) Konstruktion und Malerei stehen in keinem
wesentlichen Zusammenhang, sie existieren
nebeneinander, anstatt durcheinander und rufen
daher keine „synoptische" Wirkung hervor. Das
Prinzip des Dekorativen und Ornamentalen be-
ruht grundsätzlich auf der Wiederholung eines
Motivs, eine Wiederholung, die durch den Fak-
tor „Zeit" hervorgerufen ist. Die Lösung der
Farben in der Architektur ist iden-
tisch mit der Lösung des Zeitmo-
ments in der Malerei.
Erst heute, im zwanzigsten Jahrhundert,
haben wir begriffen, daß es auf geistiger Armut
beruht, wenn man die Lösung in der Repetierung
des Ornaments sucht. Der orientalische Tep-
pich, und die daher abgeleitete Tapete, sind dem
gleichen Prinzip der Wiederholung unterworfen.
Jede Malerei, die sich im Raum fortsetzt, also
in zeitlicher Ausbreitung begriffen ist, war von
jeher durch Wiederholung charakterisiert. Das-
selbe gilt für die Malerei wie für die Architektur,
für die Musik und die Dichtung. Das Problem ist
unverändert geblieben, nur die Mittel und die
Ausdrucksmöglichkeiten haben sich geändert.
Sie sind statt illusionistisch, real geworden. Die
Wiederholung eines musikalischen Themas ist
genau so dekorativ, als die regelmäßige Wieder-
kehr bestimmter Bauteile. Der Begriff der Sym-
metrie, der selbst heute noch von modernen Ar-
chitekten (le Corbusier, Loos, Oud) aufrecht ge-
halten wird, wurzelt ebenfalls im Prinzip des De-
korativen und Ornamentalen.
Als Reaktion gegen den Dekorativismus er-
klang etwa 15 Jahre lang der Ruf „zurück zu
rationeller Konstruktion", „nieder mit dem Orna-
ment"! Man sah das Ornament als Verbrechen
an und bannte die Farbe vollständig aus der
Architektur. Man schuf nur noch „grau in grau".
An der Grenze der Konstruktion hörte die Welt
der Farbe auf. Die Architektur wurde nackt:
Knochen und Haut.
Schon früher (um 1918) habe ich diese Archi-
tektur, der es nur um die nackte Struktur geht,
die „anatomische" genannt. In Deutschland
sprach man auch tatsächlich von einer Knochen-
und Hautarchitektur, und man wollte weder von
ästhetischer Spekulation noch von Form- oder
Gestaltungsproblemen etwas wissen. Das Ge-
sunde dieser Bewegung war die Uberwindung
der Form in der Architektur. Die neue Definition
der Architektur lautete: funktionsgemäße Orga-
nisierung der Materialien. Form war sekundär,
nebensächlich. Für Farbe war kein Platz. Mit
der Malerei hat man „abgeschlossen".
Die Russen aber waren die ersten, die zur
Malerei, und sogar zur Part pour l'art zurückgrif-
fen. Später (oder besser gesagt: in der Praxis)
sah man ein, daß diese elementare, graue Archi-
tektur ausdruckslos, „blind" war. In fanatischer
Verherrlichung der Nur-Utilität und des Nur-
Funktionellen, hat man sich nur auf das Prak-
tische und Faktische beschränkt, und die opti-
schen, taktilischen und geistigen Bedürfnisse
vollständig negiert. Das Bedürfnis nach Farben
ist den modernen Menschen genau so unentbehr-
lich, wie das Bedürfnis nach Licht, Bewegung
(Tanz), ja sogar Lärm. Das sind wesentliche
Lebensfaktoren des modernen Menschen, des
modernen „Nervensystems" geworden.
Jeder Erneuerungsversuch, der nur einen be-
stimmten Faktor betont und um diesen alle ande-
ren Faktoren negiert, ist arm und stirbt. So muß
auch der Utilitarismus zugrunde gehen, wenn er
nicht zur Anerkennung unserer geistigen Bedürf-
nisse zurückkehrt. Die Nützlichkeitsromantiker
wollten aber nur dann die Farbe anerkennen,
wenn sie nützlich war, und so entstand die zweite
35