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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929

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Renner, Paul: Johanna von Orléans im Film
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Renner, Paul: Die fünf Bedeutungen des Wortes Farbe
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https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0120

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nerer Bezirk, als die meisten ahnen. Die Stärke
dieses Films beruht zum großen Teil darauf, daß
Dreyer es wie die besten modernen Bildnispho-
tographen verstanden hat, das, was er zeigen
wollte, zu isolieren und so die Beachtung dessen,
was wir sehen sollen, zu erzwingen. Doch die
Kinematographie ist dadurch der Photographie
überlegen, daß sie nicht nur eine Ansicht der
plastischen Naturform gibt, sondern in der Ab-
folge der Ansichten bei der Wendung und Be-
wegung des Körpers die plastische Form selbst.
Dieses spezifische, noch wenig ausgenützte
Kunstmittel des Films hat Dreyer so gebraucht,
daß man von einer neuen Filmplastik sprechen
könnte. Auf der Leinwand ist oft nichts als ein
menschlicher Kopf, der sich langsam von links
nach rechts wendet; ein Kopf ohne Schminke
und Perücke: wer nicht ganz ohne Phantasie
ist, muß sich die Form und den Ausdruck
dieses Kopfes für immer einprägen. — (Doch
ist wohl hier die Gefahr sehr nahe, in Manier zu
verfallen.)

Dieser in Paris gedrehte Film ist einer der
wenigen aus der kapitalistischen Filmindustrie,
der es an innerer Wahrheit mit den besten Fil-
men Sowjetrußlands aufnehmen kann. Er scheint
zu bestätigen, was der russische Philosoph
Stepun vor einigen Wochen in einem Vor-
trag sagte: daß nur echte Frömmigkeit dem
Bolschewismus, der religiöse Bewegung sei, ent-
gegentreten könne. Dieser Johanna der Süd-
französin Maria Falconetti glaubt man ihre Be-
rufung; glaubt man die bäuerliche Herkunft der
des Lesens Unkundigen ebenso wie die ma-
gischen Kräfte der Androgyne. Sie weiß um den

Sinn ihres Lebens und ihres Todes; sie lebt
das heroische Leben und stirbt den tragischen
Tod der Menschen, in denen der Geist wirkt und
wird. Aber wie menschlich ist sie eben darin,
und wie nahe kommt sie uns durch die Kunst
des Films! Wir meinen die Lebenswärme dieses
fiebernden verängstigten Mädchens zu spüren,
das sich mit dem Handrücken auf bäuerliche Art
das aus Auge und Nase rinnende Wasser ab-
streift und das dann wieder betend in eksta-
tischer Einswerdung mit dem Geist den ihr von
den kirchlichen Richtern eingeredeten Zweifel an
ihrer Berufung in selige Gewißheit verwandelt.
Diese Richter sind irrende Unholde; aber es ist
in ihnen auch etwas von der ewigen Tragik und
Schuld aller Kirchen, von der Tragik und Schuld
des Großinquisitors. Wenn die Kirche den Film
zu zensieren hätte, wäre sie wieder einmal vor
die Entscheidung gestellt, ob sie es mit dem
Bischof von Beauvais und dem Gericht von
Rouen halten wollte oder mit dem Heiligen Vater,
der Johanna heilig gesprochen hat.

Aus dem kurzen, aber an dramatischen Span-
nungen so reichen Heldenleben der Jungfrau
zeigt Dreyer sehr weise nur ihren letzten inne-
ren Kampf vor dem Gericht von Rouen. Leider
folgen dann aber tumultuöse Schlußszenen, die
in diesem Drama nicht mehr nötig sind. Es müßte
dort aufhören, wo der weißbärtige Mann ausruft:
„Ihr habt eine Heilige verbrannt!" Es war schön,
daß der Film ohne jede Musik vorgeführt wurde.
Möge Maria Falconetti, die man lieben muß,
immer in Paris bleiben, vielleicht auch einmal in
Rußland filmen, aber bitte niemals in Hollywood!

Paul Renner

RUNDSCHAU

Zur IV. Farbentagung in München am 18. und 19. Februar mögen
folgende drei Aufsätze über die Fragen orientieren, die unsere
Leser am meisten interessieren werden.

DIE FÜNF BEDEUTUNGEN DES WORTES FARBE

Unsere sichtbare Umwelt ist überall und in jedem
Augenblicke farbig, obwohl wir davon nur wenig be-
merken. So hat die staubige Decke unserer Land-
straßen die reichsten und erlesensten Farben; aber
sie werden noch nicht einmal von jedem Maler wahr-
genommen, obwohl doch gerade die Autostraße der
Teil unserer Erdoberfläche ist, den die Menschen
heute mit der größten Aufmerksamkeit und Ausdauer

beobachten. Man achtet nur darauf, ob die Straße
frei, ob der Weg staubig, mit Wasser bespritzt, ge-
pflastert, geteert oder geölt ist. Den Zustand, die
Beschaffenheit der Straße erkennt man an der
Eigenart ihrer farbigen Erscheinung; aber die Far-
bigkeit selbst bemerkt man so wenig, wie die
Schriftformen eines Extrablattes oder einer Fa-
milienanzeige, auch wenn man von dem Inhalt, den

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