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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929

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Renner, Paul: Konstruktive und konstruierte Form
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https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0659

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KONSTRUKTIVE UND KONSTRUIERTE FORM

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Die Form unserer Zeit ist funktionell, kon-
struktiv und elementar. Aber wenn wir von
funktioneller Form sprechen, meinen wir nicht
eine NUR-funktionelle Form-LOSIGKEIT; und
unter elementaren Formen verstehen wir nicht
konstruierte Figuren aus der Elementarstufe
der Geometrie.

Konstruktiv ist nicht dasselbe wie konstru-
iert. Im Konstruierten und im Konstruktiven
treten sich zwei Welten gegenüber: die Welt
der Begriffe und die Welt der Anschauung.
Es wäre falsch, die eine Welt wirklich und die
andere unwirklich zu nennen oder hier die
Grenzlinien zwischen Sein und Schein zu ver-
muten. Es sind zwei wesenhafte, ebenbürtige
Bezirke, von denen jeder seine eigenen Ge-
setze hat.

In der begrifflichen Sphäre ist eine senk-
rechte Strecke von zehn Zentimeter Länge
dann in der Mitte geteilt, wenn jede Hälfte
fünf Zentimeter lang ist. In der Sphäre der An-
schauung träfe eine solche Teilung nicht die
Mitte, sondern ließe den oberen Teil größer als
den unteren.

Das Quadrat ist in der begrifflichen Sphäre
des Mathematikers eine rechtwinklige Fläche
von vier gleich langen Seiten. Wenn wir ein
solches Quadrat zeichnen, werden uns die
Seiten auch gleich lang vorkommen (Abb. 1).
Wer aber ein künstlerisch sensibles Auge hat,
das die kleinsten Unterschiede wahrnimmt,
dem wird das konstruierte Quadrat etwas zu
hoch erscheinen. Es könnte fast um ein Zehn-
tel niedriger sein als breit, um in der Welt der
Anschauung als rechtwinklige Fläche von vier
gleich langen Seiten gelten zu können (Abb. 2).

Jede mehrfach geteilte Strecke erscheint
größer als die maßstäblich gleichlange unge-
teilte. Die quadratische Fläche wirkt deshalb
breiter als quadratisch, wenn sie mit parallelen
Linien ausgefüllt ist, die senkrecht stehen, und
höher bei wagerechten Linien (Abb.3), obwohl
die einzelne Senkrechte sonst größer er-
scheint als die maßstäblich ebenso große
Wagerechte (Abb. 4).

Auch ein gleichseitiges Dreieck erscheint
länglicher, das heißt höher, wenn es mit wage-

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