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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929

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Riezler, Walter: "Form", Foto und Film
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Lotz, Wilhelm: "Der Mann mit der Kamera": ein Film von Dsiga Werthoff
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https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0439

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Stuttgart hat sich um die ganze Filmbewegung
das größte Verdienst erworben, indem sie diese
Vorführungen veranstaltete. Sicher ist es noch
nicht ganz klar, wohin der Weg geht. Augenblick-
lich steht nur das eine fest: daß es so nicht
weiter geht. Und von der Krisis wissen heute
nicht mehr nur die Wenigen, denen aus kulturel-
len Gründen die Frage des Films am Herzen
liegt, sondern glücklicherweise allmählich offen-
bar sogar die Filmindustriellen. Die Zeiten, da
man mit dem Filmschund mühelos Geld machen
konnte, sind wahrscheinlich bald vorüber. Immer
häufiger kommt es vor, daß neue Filme vom
Publikum, das anspruchsvoll zu werden beginnt,
abgelehnt, ja ausgepfiffen werden. Und die Film-
kritik wird mit jedem Tage mutiger und offenher-
ziger. Da und dort entsteht ein neues Studio,
und ernste Filmfachleute suchen neue Wege.
Daß gerade in diesen Tagen der Filmkritiker des
,,Berliner Tageblatts" erzählt, ein Studio habe
damit angefangen, „den diesjährigen Sommer
der Berliner Angestellten aus dem Leben heraus
zu fotografieren", und auch sonst empfiehlt,

„realistisch und dokumentarisch anzufangen",
scheint mir ein ganz besonders erfreuliches
Symptom zu sein. So dürfen wir vielleicht hof-
fen, daß wir bis 1932 so weit sind, daß wir auf
der großen Ausstellung ein Kino ohne Kompro-
misse und voll von reichen neuen Formen zeigen
können. Diese Formen werden, wenn nicht alles
trügt, nicht der Welt des Spielfilms angehören,
sondern der der „Fakten", wie es Werthoff nennt.
Die gespielte Handlung wird bald nicht mehr
interessieren, wohl aber die reiche Welt der
„Wirklichkeiten", die das „Kino-Auge" in ganz
neuer Weise sieht.

Bis 1932 wird ja auch der Tonfilm wirklich
da sein. Er bringt eine Fülle neuer Probleme mit
sich, die sich heute noch kaum ahnen lassen.
Nur so viel glauben wir zu wissen: das „Ende
des Sprechtheaters", das Fred Hildebrandt nun
kommen sieht, wird er sicher nicht bedeuten.
Vielmehr wird seine Entwicklung in ganz anderer
Richtung gehen. Doch davon ein andermal!

W. Riezler

„DER MANN MIT DER KAMERA"

Ein Film von Dsiga Werthoff

Der übliche Herstellungsvorgang bei Filmauf-
nahmen ist der, daß die Schauspieler ohne Rück-
sicht auf den Filmhergang die Szenen hinterein-
ander spielen, die vor der gleichen Szenerie dar-
zustellen sind: stückchenweise ohne inneren Zu-
sammenhang werden ganz kurze Szenen aufge-
nommen — Achtung, Aufnahme! Dem Filmbe-
schauer stellt es sich dann so dar, als hätten
die Schauspieler wie im Theater vor der Kamera
ihre Rollen heruntergespielt. Im Theater kann
der Schauspieler seine Rolle herunterspielen,
Spannung, Tempo und Ablauf ergeben sich aus
dem Erleben seiner Rolle. Beim Film muß er sie
in tausend Gesten zerlegen, die irgendwie durch-
einander aufgenommen werden. Was der Be-
schauer dann sieht, sind tausend montierte Posen.

In Berlin ist Werthoffs Film „Der Mann mit der
Kamera" uraufgeführt worden. Dieser Film ist
eine Montage von vielen im Leben aufgenom-
menen Filmstreifen. Aus einem Reservoire von
solchen Szenen wird nicht eine motivische oder
literarische Handlung montiert, sondern ein rhyth-
mischer musikalischer Ablauf. In dem nachste-
henden Aufsatz legt Werthoff die Prinzipien sei-
ner Arbeitsgemeinschaft, des „Kinoki" nieder.
Mit dem Film will er sichtbare Erscheinungen do-

kumentarisch festhalten. Benno Reifenberg hat
in der Frankfurter Zeitung auf den Widerspruch
der Theorien Werthoffs mit seinem Film hinge-
wiesen und etwa gesagt, daß dieses reine kalt-
herzige dokumentarische Aufnehmen nieder-
schmetternd sei, wenn es möglich wäre, alle
menschlichen Beziehungen zwischen Auge, Hirn
und Empfindung auszuschalten.

Hierzu kann gesagt werden, daß alles objektiv
sein wollende Dokumentieren, selbst wenn die
subjektive Gefühlssphäre ausgeschaltet wird,
doch immer unter dem Einfluß zeitlich gebunde-
ner Anschauung steht. Auch ist alles Dokumen-
tieren immer Auslese und Hervorhebung dessen,
was irgendwie wichtig erscheint. Je disziplinier-
ter und gewollt objektiver dieses Dokumentieren
vor sich geht, desto stärker tritt das Objekt aus
eigener Kraft in Aktion, weil es nicht mehr sub-
jektiv gefühlsbestimmt vorgestellt wird. Welcher
Film hat bisher staunende Kinder so gezeigt wie
Werthoff? Das Staunen der Kinder wird immer
so dargestellt, wie man es als hübsch empfindet,
die Aufnahme triefte vor „Empfindung". Die
Kinder vor dem Zauberer im „Mann mit der Ka-
mera" sind selbst Staunen, nicht das Empfinden
des Staunens ist durch Aufnahme und Regisseur

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