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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929

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Richter, Hans: Neue Mittel der Film-Gestaltung
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https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0079

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NEUE MITTEL DER FILM-GESTALTUNG

Wir veröffentlichen in den nächsten Heften im Hin-
blick auf die Stuttgarter Veranstaltung „Film und
Foto" eine Anzahl Beiträge über dieses Thema.
Dieser Artikel ist von dem Mitarbeiter für Filmfragen
der Stuttgarter Veranstaltung verfaßt.

Die Schriftleitung

Ein Mensch sitzt im Kino und sieht sich ein-
und denselben Film 60mal an. Zuerst interes-
siert ihn die Handlung, das Sujet, dann Mimik
und Aussehen der Schauspieler, Regie, Deko-
ration, Kostüme, aber in dem Maß, in dem sein
Interesse für Handlung und das Äußere der
Gegenstände abnimmt, wächst es für etwas, was
trotz dieser im Film (selbst im schlechtesten
noch faszinierend) vorhanden ist; für das, was
hinter der Spielhandlung auf der Leinwand vor
sich geht.

Das Spiel des Lichts, der Reichtum der Be-
wegungen und der Reiz der einzelnen Form wer-
den sich ihm aufdrängen, die natürliche Schön-
heit dessen, was Film eigentlich sein könnte,
wird ihm aufgehen.

Darüber zu sprechen ist heute von aktueller
Bedeutung, denn man hat die überwältigende An-
zahl der Filme schon 60mal und mehr als 60mal
gesehen. Es sind ja überhaupt heute nur ein
Dutzend Filme, die in unzähligen Wiederholungen
überall gezeigt werden — auch das Publikum be-
ginnt das zu merken und genug davon zu haben.

Wenn man heute von Film als einer Kunst
sprechen will, so kann man nur davon ausgehen,
daß 90 v. H. aller Filme, die in den Lichtspiel-
theatern gezeigt werden, gar nicht „Film" sind.

Der Film beruht wie jede andere Kunst auf
seinen eigenen Gesetzen. An der Entdeckung
dieser Gesetze ist von Filmleuten und Außen-
stehenden gearbeitet worden. Ob die Resultate
dieser Arbeit nun in Form welterschütternder
Dokumente, wie bei den Russenfilmen, oder als
„Experimente", wie bei den Avant-Gardefilmen,
zutage treten, soll hier nicht untersucht werden,
da es sich ja um die Sache und zunächst nicht
um ihre Auswirkung handelt.

Im Jahre 1924 hat der Maler Fernand Leger
einen bemerkenswerten Film „Ballet mecanique"
gemacht: nur Gegenstände — keine Handlung.
Er sagt folgendes: „Der Irrtum des Kinos ist das
Szenarium. Losgelöst von dieser negativen Last
könnte das Kino das riesige Mikroskop der nie-
gesehenen und nieempfundenen Dinge werden.
Es gibt da ein Gebiet, das durchaus nicht von
dokumentarischer Ordnung ist, aber das sowohl
seine dramatischen wie komischen Möglichkei-
ten besitzt. Ich behaupte, daß eine Türklinke
in starker Vergrößerung, die sich langsam be-
wegt (Gegenstand) mehr Eindruck hinterläßt als
die Projektion der Person, die es in Bewegung
setzt (Sujet). Von diesem Standpunkt aus-
gehend, gäbe es eine vollständige Erneuerung
der Kinematografie. Alle negativen Werte, die
 
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