DER HEUTIGE FILM UND SEIN PUBLIKUM
Die Filmproduktion hat sich so stabilisiert wie
das Publikum, ihre Erzeugnisse weisen typische,
immer wiederkehrende Motive und Tendenzen
auf, und selbst die vom Durchschnitt abwei-
chenden Filme bieten kaum noch eine Über-
raschung. Eine Verfestigung, die sich sowohl auf
die Filmfabel wie auf das technische Verfahren
erstreckt. Die Außenseiter, also etwa die Filme:
,,Die freudlose Gasse", „Manege", „Die Hose",
„Primanerliebe", „Therese Raquin", lassen sich
zählen.
Nicht die Typisierung des Films ist verwerflich.
Im Gegenteil: statt des wahllosen Experimen-
tierens empfiehlt sich schon eher die Abwand-
lung bestimmter Vorlagen, und außerdem ver-
möchte ja auch der größte Konzern nicht
Woche für Woche neue und originelle Muster zu
liefern. Verwerflich ist die Gesinnung der Filme.
In allen Typen, die sich herauskristallisiert haben,
wird unsere gesellschaftliche Wirklichkeit auf
bald idiotisch harmlose, bald verruchte Weise
verflüchtigt, beschönigt, entstellt. Genau das,
was auf die Leinwand projiziert werden sollte,
ist von ihr weggewischt, und Bilder, die uns um
das Bild des Daseins betrügen, füllen die Fläche.
Bedarf es der Beispiele? Ein Überblick über
unsere Durchschnittsproduktion genügt.
Um nur ja nicht die Gegenwart zu zeigen, wer-
den in den Spielfilmen tatsächlich die abenteuer-
lichsten Fluchtversuche gemacht. Die Kamera,
die an jeder Straßenecke stehen könnte, durch-
rast im Atelier ferne Zeiten und Räume, mit
denen wir nichts mehr zu tun haben. Es muß
nicht der Luther der Schullesebücher sein, Otto
Gebühr oder die Jugend der Königin Luise, es
muß überhaupt kein Geschichtsheros einsprin-
gen, der von dem wesentlicheren Heroismus
namenloser Menschen ablenkt, — die jüngste
Vergangenheit ist schon so weit von uns ent-
fernt, daß sie uns wieder nahe gebracht werden
kann. Ihre verschollenen Lustspielstoffe sind
den modernen Filmen gerade recht, vorausge-
setzt, daß die Lustigkeit weniger dem „Simpli-
zissimus" als den „Fliegenden Blättern" ent-
stammt. Vor allem haben es die abgeschafften
Fürstenhöfe den Manuskriptautoren angetan. An
diesen Höfen findet sich, was das republika-
nische Publikum nach der Meinung der Filmge-
sellschaften ersehnt: ein erlauchter Kreis
von Standesherren, Galanterie aus Zeitvertreib,
Glanz der Kostüme und frisch gehöhntes Par-
kett. Die Stücke sind nicht zu zählen, in denen
der Glanz neu ersteht, und käme es nur auf das
Lächeln in Dragoneruniform an, so hätte Harry
Liedtke längst wieder die Menge für das alte
Regime gewonnen. Er ist der Mann nach dem
Herzen der Marlitt und der Held vieler Operetten.
Je abgetakelter die Operetten sind, desto mehr
eignen sie sich offenbar für die Verfilmung. „Der
Bettelstudent", „Der Orlow", „Die Geliebte sei-
ner Hoheit" — in Schwärmen fallen sie über die
Zuschauer her, mit ihren leichtsinnigen, aber lie-
benswerten Prinzen, ihren Feenschlössern und
faden Couplets. Der Plunder, der nach der Re-
volution in Staub zu zerfallen schien, gebärdet
sich quicklebendig.
Wenn nun doch die Gegenwart dargestellt
wird, so entschwindet sie erst recht aus dem
Gesichtsfeld. „Selig sind die Armen, denn ihrer
ist das Himmelreich" — naci diesem Wort der
Bergpredigt verfährt ein großer Teil der unserer
Zeit gewidmeten Filme. Sie halten mehr von der
Prädestination als von den Gewerkschaften;
jedenfalls wählen sie unter den Arbeitern und
Angestellten, die sie sich durchweg als unorgani-
siert denken, stets nur den einen oder anderen
vereinzelten Armen aus, den sie dann selig wer-
den lassen. Das ist das Schema der Zille-Filme,
die das Angenehme mit dem Nützlichen verbin-
den, indem sie ein Proletariermilieu gruselig
schildern und zugleich eine Person aus der Hölle
erretten. Die Wege der Filmherren sind uner-
forschlich. Auch Telephonistinnen, Ladenmäd-
chen und Privatsekretärinnen können hoffen,
ohne ihren Berufsverband in Anspruch nehmen
zu müssen, denn nicht nur „Lotte hat ihr Glück
gemacht", Lotte, die eine einfache Maniküre war,
sondern noch manche andere Kollegin, der es
niemand an der Wiege gesungen hatte. Freilich,
hübsch muß man sein. Das Himmelreich, in das
diese dreimal gesiebten Personen befördert wer-
den, ist die Gesellschaft. Sie erstrahlt in den
herrschenden Filmen so hell wie das Paradies
auf mittelalterlichen Bildern. Ihre Mitglieder
chauffieren selbst, leben in Berlin, Paris und an
der Riviera, treten fast nur im Sportkostüm oder
101
Die Filmproduktion hat sich so stabilisiert wie
das Publikum, ihre Erzeugnisse weisen typische,
immer wiederkehrende Motive und Tendenzen
auf, und selbst die vom Durchschnitt abwei-
chenden Filme bieten kaum noch eine Über-
raschung. Eine Verfestigung, die sich sowohl auf
die Filmfabel wie auf das technische Verfahren
erstreckt. Die Außenseiter, also etwa die Filme:
,,Die freudlose Gasse", „Manege", „Die Hose",
„Primanerliebe", „Therese Raquin", lassen sich
zählen.
Nicht die Typisierung des Films ist verwerflich.
Im Gegenteil: statt des wahllosen Experimen-
tierens empfiehlt sich schon eher die Abwand-
lung bestimmter Vorlagen, und außerdem ver-
möchte ja auch der größte Konzern nicht
Woche für Woche neue und originelle Muster zu
liefern. Verwerflich ist die Gesinnung der Filme.
In allen Typen, die sich herauskristallisiert haben,
wird unsere gesellschaftliche Wirklichkeit auf
bald idiotisch harmlose, bald verruchte Weise
verflüchtigt, beschönigt, entstellt. Genau das,
was auf die Leinwand projiziert werden sollte,
ist von ihr weggewischt, und Bilder, die uns um
das Bild des Daseins betrügen, füllen die Fläche.
Bedarf es der Beispiele? Ein Überblick über
unsere Durchschnittsproduktion genügt.
Um nur ja nicht die Gegenwart zu zeigen, wer-
den in den Spielfilmen tatsächlich die abenteuer-
lichsten Fluchtversuche gemacht. Die Kamera,
die an jeder Straßenecke stehen könnte, durch-
rast im Atelier ferne Zeiten und Räume, mit
denen wir nichts mehr zu tun haben. Es muß
nicht der Luther der Schullesebücher sein, Otto
Gebühr oder die Jugend der Königin Luise, es
muß überhaupt kein Geschichtsheros einsprin-
gen, der von dem wesentlicheren Heroismus
namenloser Menschen ablenkt, — die jüngste
Vergangenheit ist schon so weit von uns ent-
fernt, daß sie uns wieder nahe gebracht werden
kann. Ihre verschollenen Lustspielstoffe sind
den modernen Filmen gerade recht, vorausge-
setzt, daß die Lustigkeit weniger dem „Simpli-
zissimus" als den „Fliegenden Blättern" ent-
stammt. Vor allem haben es die abgeschafften
Fürstenhöfe den Manuskriptautoren angetan. An
diesen Höfen findet sich, was das republika-
nische Publikum nach der Meinung der Filmge-
sellschaften ersehnt: ein erlauchter Kreis
von Standesherren, Galanterie aus Zeitvertreib,
Glanz der Kostüme und frisch gehöhntes Par-
kett. Die Stücke sind nicht zu zählen, in denen
der Glanz neu ersteht, und käme es nur auf das
Lächeln in Dragoneruniform an, so hätte Harry
Liedtke längst wieder die Menge für das alte
Regime gewonnen. Er ist der Mann nach dem
Herzen der Marlitt und der Held vieler Operetten.
Je abgetakelter die Operetten sind, desto mehr
eignen sie sich offenbar für die Verfilmung. „Der
Bettelstudent", „Der Orlow", „Die Geliebte sei-
ner Hoheit" — in Schwärmen fallen sie über die
Zuschauer her, mit ihren leichtsinnigen, aber lie-
benswerten Prinzen, ihren Feenschlössern und
faden Couplets. Der Plunder, der nach der Re-
volution in Staub zu zerfallen schien, gebärdet
sich quicklebendig.
Wenn nun doch die Gegenwart dargestellt
wird, so entschwindet sie erst recht aus dem
Gesichtsfeld. „Selig sind die Armen, denn ihrer
ist das Himmelreich" — naci diesem Wort der
Bergpredigt verfährt ein großer Teil der unserer
Zeit gewidmeten Filme. Sie halten mehr von der
Prädestination als von den Gewerkschaften;
jedenfalls wählen sie unter den Arbeitern und
Angestellten, die sie sich durchweg als unorgani-
siert denken, stets nur den einen oder anderen
vereinzelten Armen aus, den sie dann selig wer-
den lassen. Das ist das Schema der Zille-Filme,
die das Angenehme mit dem Nützlichen verbin-
den, indem sie ein Proletariermilieu gruselig
schildern und zugleich eine Person aus der Hölle
erretten. Die Wege der Filmherren sind uner-
forschlich. Auch Telephonistinnen, Ladenmäd-
chen und Privatsekretärinnen können hoffen,
ohne ihren Berufsverband in Anspruch nehmen
zu müssen, denn nicht nur „Lotte hat ihr Glück
gemacht", Lotte, die eine einfache Maniküre war,
sondern noch manche andere Kollegin, der es
niemand an der Wiege gesungen hatte. Freilich,
hübsch muß man sein. Das Himmelreich, in das
diese dreimal gesiebten Personen befördert wer-
den, ist die Gesellschaft. Sie erstrahlt in den
herrschenden Filmen so hell wie das Paradies
auf mittelalterlichen Bildern. Ihre Mitglieder
chauffieren selbst, leben in Berlin, Paris und an
der Riviera, treten fast nur im Sportkostüm oder
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