Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929
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Kracauer, Siegfried: Der heutige Film und sein Publikum
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in großer Abendtoilette auf und geraten höch-
stens einmal in Not, wenn sie sofort hinterher
eine reiche Heirat machen.
Nicht alle Filme treiben solche Theologie. Es
gibt auch aufgeklärtere, die dem Geschmack
eines mehr intellektuellen Publikums entsprechen
möchten. Sie setzen halbswegs radikal ein, aber
ihre Radikalität kehrt sich immer nur gegen die
gestürzten Größen von gestern. Bezeichnend für
die ganze Gattung ist die Verzagtheit des
Domela-Films. Die Saxo-Borussen sind in ihm
unter den Tisch gefallen, unter dem man sie nicht
zeigen will, und die Satire hat einer Verulkung
Platz gemacht, die streichelt, statt daß sie
schlüge.
Die dokumentarischen Filme haben nicht wie
die meisten Spielfilme künstliche Szenerien sich
gegenüber, sondern die Wirklichkeit, die sie er-
fassen sollen. Man könnte meinen, daß sie den
Ehrgeiz besäßen, uns die Welt vorzuführen, wie
sie ist. Genau das Umgekehrte trifft zu. Sie
sperren von dem Leben ab, das uns einzig an-
geht, sie überschütten das Publikum mit einer
solchen Fülle gleichgültiger Beobachtungen, daß
es gegen die wichtigen abstumpft. Eines Tages
wird es völlig erblinden. Die Schiffstaufen,
Schadenfeuer, Sportaufnahmen, Festzüge, Kin-
der- und Tieridylle der von den bekannten Firmen
gemixten Wochenberichte sind zwar vielleicht
Aktualitäten, aber gewiß keine Ereignisse, bei
denen sich hundertmal zu verweilen lohnte; um
ganz davon zu schweigen, daß sich die verschie-
denen Motorradrennen zum Verzweifeln ähnlich
sehen. Die Monotonie dieser Ragouts ist die
gerechte Rache an ihrer Belanglosigkeit, die
durch die gedankenleere Art, in der sich die ein-
zelnen Bildeinheiten zum Mosaik fügen, nur noch
gesteigert wird. Drastisch entlarvt worden ist
sie von dem ,,Volksverband für Filmkunst", der
seinerzeit aus dem Material der Bildarchive eine
eigene Wochenschau zusammenstellte, die po-
intierte Inhalte vermittelte. Auch die üblichen
Kulturfilme hüten sich ängstlich davor, unserer
Kultur auf den Leib zu rücken. Lieber schweifen
sie zu der fremden: zu afrikanischen Völker-
stämmen, zu den Sitten und Gebräuchen der Es-
kimos, zu Schlangen, Käfern und Palmen. Daß
einige von ihnen gut gemacht sind, verschlägt
weniger als die Tatsache, daß sie wie auf Ver-
abredung nahezu alle den dringlichsten mensch-
lichen Angelegenheiten aus dem Weg gehen, daß
sie das Exotische in den Alltag hereinziehen,
statt die Exotik im Alltäglichen zu suchen. Außer-
dem sind sie meistens schlecht gemacht, ziem-
lich unsinnige Gebilde, die, ohne darum gebeten
zu sein, einen oberflächlichen Instruktionsunter-
richt erteilen, den jedes Konversationslexikon
besser versieht.
Der stofflichen Unzulänglichkeit entspricht,
wie es nicht anders sein kann, die ästhetische.
Gleichzeitig mit den verschiedenen Handlungs-
typen hat sich eine Konfektionstechnik verfestigt,
deren sich die Autoren der Drehbücher, die mehr
oder weniger routinierten Regisseure und ihre
Assistenten skrupellos bedienen. Man merkt es
den Stücken schon von weitem an, daß sie nicht
auf Maß gearbeitet sind. Mögen die Erforder-
nisse des Betriebs zu einer gewissen Schemati-
sierung drängen, sie rechtfertigen nicht den
niedrigen Stand der Verfahrungsweisen.
Von einer filmischen Konstruktion ist in der
Mehrzahl der Fälle keine Rede. Wahllos wird
zu Vorlagen gegriffen, die nicht im geringsten
optisch gemeint sind, Schnitzler, Zuckmayer und
Sudermann müssen daran glauben. Nun finden
sich in vielen Romanen und Theaterstücken Mo-
tive und Stoffzellen, denen ein echter Film ent-
wachsen könnte; aber die Produzenten machen
sich nicht die Mühe, ihre Originale in diese
filmisch verwendbaren Elemente zu zerlegen und
aus ihnen neu aufzubauen, sie übersetzen viel-
mehr die Originale Szene für Szene und verän-
dern höchstens dem Publikum zu Gefallen die
Handlung. Das heißt: der so entstehende Film
ist die fortlaufende Illustration eines fremden
Textes, während er selbst der zu lesende Text
sein sollte. Seine Auftritte folgen sich nach
der Anweisung einer Fabel, die unabhängig von
ihnen verläuft, nicht aber entwickelt sich die
Fabel nach einem in der Bildfolge beschlossenen
Gesetz.
Ein solches Verfahren beraubt zwangsläufig
viele Details ihrer Bedeutung, die das tragende
Gerüst eines Films zu sein hätten; denn ist sein
Fortgang an eine außer ihm gelegene Handlung
geknüpft, so sind die sie vergegenwärtigenden
Bildteile nur ein Zubehör. Damit die optische
Einzelheit die ihr gebührende Funktion erhielte,
müßte sie ein wesentliches Bestandstück der
visuell völlig zu erschöpfenden Handlung sein;
wie sie es etwa stellenweise in dem Film „The-
rese Raquin" ist, in dem die Kleinbürgerwoh-
nung aus eigener Kraft mitspielt. Die stabilisierte
Technik macht zwar auch ausgiebig von Autos
Gebrauch, zeigt bei jeder Reise des Helden das
Gestänge der D-Zugslokomotive, läßt Beine lau-
fen und Wagenräder rollen und scheut selbst
vor teuren Katastrophen nicht zurück — aber
alle diese Fragmente haben nur einen ornamen-
talen Sinn, und man könnte sie getrost ent-
behren, ohne daß der Film an Verständlichkeit
verlöre. Sehr zum Unterschied vom richtigen
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stens einmal in Not, wenn sie sofort hinterher
eine reiche Heirat machen.
Nicht alle Filme treiben solche Theologie. Es
gibt auch aufgeklärtere, die dem Geschmack
eines mehr intellektuellen Publikums entsprechen
möchten. Sie setzen halbswegs radikal ein, aber
ihre Radikalität kehrt sich immer nur gegen die
gestürzten Größen von gestern. Bezeichnend für
die ganze Gattung ist die Verzagtheit des
Domela-Films. Die Saxo-Borussen sind in ihm
unter den Tisch gefallen, unter dem man sie nicht
zeigen will, und die Satire hat einer Verulkung
Platz gemacht, die streichelt, statt daß sie
schlüge.
Die dokumentarischen Filme haben nicht wie
die meisten Spielfilme künstliche Szenerien sich
gegenüber, sondern die Wirklichkeit, die sie er-
fassen sollen. Man könnte meinen, daß sie den
Ehrgeiz besäßen, uns die Welt vorzuführen, wie
sie ist. Genau das Umgekehrte trifft zu. Sie
sperren von dem Leben ab, das uns einzig an-
geht, sie überschütten das Publikum mit einer
solchen Fülle gleichgültiger Beobachtungen, daß
es gegen die wichtigen abstumpft. Eines Tages
wird es völlig erblinden. Die Schiffstaufen,
Schadenfeuer, Sportaufnahmen, Festzüge, Kin-
der- und Tieridylle der von den bekannten Firmen
gemixten Wochenberichte sind zwar vielleicht
Aktualitäten, aber gewiß keine Ereignisse, bei
denen sich hundertmal zu verweilen lohnte; um
ganz davon zu schweigen, daß sich die verschie-
denen Motorradrennen zum Verzweifeln ähnlich
sehen. Die Monotonie dieser Ragouts ist die
gerechte Rache an ihrer Belanglosigkeit, die
durch die gedankenleere Art, in der sich die ein-
zelnen Bildeinheiten zum Mosaik fügen, nur noch
gesteigert wird. Drastisch entlarvt worden ist
sie von dem ,,Volksverband für Filmkunst", der
seinerzeit aus dem Material der Bildarchive eine
eigene Wochenschau zusammenstellte, die po-
intierte Inhalte vermittelte. Auch die üblichen
Kulturfilme hüten sich ängstlich davor, unserer
Kultur auf den Leib zu rücken. Lieber schweifen
sie zu der fremden: zu afrikanischen Völker-
stämmen, zu den Sitten und Gebräuchen der Es-
kimos, zu Schlangen, Käfern und Palmen. Daß
einige von ihnen gut gemacht sind, verschlägt
weniger als die Tatsache, daß sie wie auf Ver-
abredung nahezu alle den dringlichsten mensch-
lichen Angelegenheiten aus dem Weg gehen, daß
sie das Exotische in den Alltag hereinziehen,
statt die Exotik im Alltäglichen zu suchen. Außer-
dem sind sie meistens schlecht gemacht, ziem-
lich unsinnige Gebilde, die, ohne darum gebeten
zu sein, einen oberflächlichen Instruktionsunter-
richt erteilen, den jedes Konversationslexikon
besser versieht.
Der stofflichen Unzulänglichkeit entspricht,
wie es nicht anders sein kann, die ästhetische.
Gleichzeitig mit den verschiedenen Handlungs-
typen hat sich eine Konfektionstechnik verfestigt,
deren sich die Autoren der Drehbücher, die mehr
oder weniger routinierten Regisseure und ihre
Assistenten skrupellos bedienen. Man merkt es
den Stücken schon von weitem an, daß sie nicht
auf Maß gearbeitet sind. Mögen die Erforder-
nisse des Betriebs zu einer gewissen Schemati-
sierung drängen, sie rechtfertigen nicht den
niedrigen Stand der Verfahrungsweisen.
Von einer filmischen Konstruktion ist in der
Mehrzahl der Fälle keine Rede. Wahllos wird
zu Vorlagen gegriffen, die nicht im geringsten
optisch gemeint sind, Schnitzler, Zuckmayer und
Sudermann müssen daran glauben. Nun finden
sich in vielen Romanen und Theaterstücken Mo-
tive und Stoffzellen, denen ein echter Film ent-
wachsen könnte; aber die Produzenten machen
sich nicht die Mühe, ihre Originale in diese
filmisch verwendbaren Elemente zu zerlegen und
aus ihnen neu aufzubauen, sie übersetzen viel-
mehr die Originale Szene für Szene und verän-
dern höchstens dem Publikum zu Gefallen die
Handlung. Das heißt: der so entstehende Film
ist die fortlaufende Illustration eines fremden
Textes, während er selbst der zu lesende Text
sein sollte. Seine Auftritte folgen sich nach
der Anweisung einer Fabel, die unabhängig von
ihnen verläuft, nicht aber entwickelt sich die
Fabel nach einem in der Bildfolge beschlossenen
Gesetz.
Ein solches Verfahren beraubt zwangsläufig
viele Details ihrer Bedeutung, die das tragende
Gerüst eines Films zu sein hätten; denn ist sein
Fortgang an eine außer ihm gelegene Handlung
geknüpft, so sind die sie vergegenwärtigenden
Bildteile nur ein Zubehör. Damit die optische
Einzelheit die ihr gebührende Funktion erhielte,
müßte sie ein wesentliches Bestandstück der
visuell völlig zu erschöpfenden Handlung sein;
wie sie es etwa stellenweise in dem Film „The-
rese Raquin" ist, in dem die Kleinbürgerwoh-
nung aus eigener Kraft mitspielt. Die stabilisierte
Technik macht zwar auch ausgiebig von Autos
Gebrauch, zeigt bei jeder Reise des Helden das
Gestänge der D-Zugslokomotive, läßt Beine lau-
fen und Wagenräder rollen und scheut selbst
vor teuren Katastrophen nicht zurück — aber
alle diese Fragmente haben nur einen ornamen-
talen Sinn, und man könnte sie getrost ent-
behren, ohne daß der Film an Verständlichkeit
verlöre. Sehr zum Unterschied vom richtigen
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