Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929

DOI article:
Hilberseimer, Ludwig: Ja, die Genossenschaftsstadt ist möglich!
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0394

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
RUNDSCHAU IN DER BAUWlRTSCHAFT

JA, DIE GENOSSENSCHAFTSTADT IST MÖGLICH!

Alexander Schwab setzt sich im letzten Heft der
„Form" mit dem Projekt der Großsiedlung von
Fischer, Gropius und Paulsen auseinander und kommt
zu einer völligen Ablehnung. Er hält die Idee einer
Siedlung, deren Verzinsung und Tilgung neben den
Mieteinnahmen durch eigene Versorgungsbetriebe»
gesichert werden soll, für eine Utopie, die er den ge-
scheiterten Versuchen von Owen und Fournier
gleichsetzt. Vor allem lehnt er den Plan eines eige-
nen Kraftwerkes ab. Dieser Einwand, einer seiner
wesentlichsten, muß aber als völlig belanglos be-
zeichnet werden, denn die Rentabilität des Unter-
nehmens wäre, wenn überhaupt, auch ohne das Be-
stehen eines eigenen Kraftwerkes möglich. Die
Uberschüsse, die aus der Organisation des Ver-
brauchs an Kohle, Nahrung, Kleidung und sonstigen
Gegenständen der Wirtschaft und des täglichen Be-
darfs zu erzielen sind, können so erheblich sein, daß
sie durchaus zusammen mit der angenommenen
Miete zur Verzinsung und Tilgung ausreichen. Rech-
net man beispielsweise von einem Verbrauch von
2 Mark pro Kopf und Tag eine Verdienstquote von
10 v. H. für die Genossenschaft, so würden an einer
Person jährlich 72 Mark, d. h. an 25 000 Personen

— die durchschnittliche Einwohnerzahl der Siedlung

— ca. 2 Millionen Mark der Genossenschaft zugute-
kommen. Dabei ist eine zehnprozentige Gewinn-
quote sehr niedrig gehalten. Die freie Wirtschaft
rechnet mit erheblich höheren Gewinnen. Bei der
Beurteilung des Planes kommt es jedoch nicht auf
Einzelheiten, über die man verschiedener Meinung
sein kann, sondern auf das Prinzip an. Die in genos-
senschaftlichen Unternehmungen investierten Kapi-
talien und die von ihnen erzielten Umsätze zeigen
die enorme praktische Bedeutung der Genossen-
schaft im Wirtschaftsleben. Die Vorteile genossen-
schaftlicher Bedarfsdeckung sind kaum noch um-
stritten. Es geht daher nicht an, Versuche wie die
von Fournier und Owen, deren wirtschaftliche Ziele
mit weltanschaulichen und humanitären Ideen zu
stark vermischt waren, um sich rein auswirken zu
können, mit einem Projekt zu vergleichen, daß sich
auf eine einzige Aufgabe beschränkt, daß die viel-
jährigen Erfahrungen auf dem Gebiete des Genos-

senschaftswesens benutzen kann und dem ein ganz
anderer Apparat zur Durchführung seiner Ziele zur
Verfügung steht. Theoretische Erörterungen, dog-
matische Gesichtspunkte dürfen nicht vergessen
machen, daß dem Projekt ein sehr realer Plan: bil-
lige Wohnungen zu bauen, zugrunde liegt. Dies
durchzusetzen, sollte nichts unversucht bleiben.
Selbst angenommen, daß die aus den Versorgungs-
betrieben zu gewinnende Summe zur Verzinsung
und Tilgung von 2,8 Millionen Mark nicht ausreicht
und man die Miete um 30 v. H. erhöhen müßte, so
würde die Miete für die kleinste Wohnung von 61 qm
doch nur 50 Mark betragen, während sie in einem mit
Hauszinssteuermitteln erbauten Haus mindestens

das Doppelte kostet. Statt einer „Insel Utopia____

inmitten einer kapitalistischen Welt" kann die Ge-
nossenschaftssiedlung eine Zelle sein, aus der ein
ganz neues Gebilde entsteht. Es ist heute weder
wirtschaftlicher Dilettantismus noch Phantasterei,
zu versuchen, durch eine konsequente Konsumen-
tenorganisation eine Siedlung großen Ausmaßes zu
schaffen und tragfähig zu machen. Die Unterneh-
merorganisationen, die die Warenproduktion, den
Warenbezug und die Warenverteilung organisieren,
sind in ständiger Entwicklung begriffen. Es ist eine
selbstverständliche Notwendigkeit, dasselbe Prinzip
auf eine Verbraucherorganisation zu übertragen und
zu ihren Gunsten auszunutzen. Sieht man von Ein-
zelheiten des Projekts ab und untersucht seinen
Kern, so erscheint es nicht unmöglich, auf diesem
Wege für die breite Masse menschenwürdige Woh-
nungen zu mäßigen Preisen zu schaffen. Denn die
Mieten der mit Hilfe öffentlicher Mittel von Unter-
nehmern erbauten Wohnungen sind trotz des niedri-
gen Zinssatzes für die meisten unerschwinglich.
Wenn für das Bauen auf genossenschaftlicher
Grundlage außerdem Mittel aus der Hauszinssteuer
zur Verfügung gestellt würden, so ließe sich die
Miete noch mehr herabsetzen. Dies hätte zur Folge,
daß Neubauwohnungen wirklich dem Teil der Bevöl-
kerung zugute kämen, der sie am dringendsten
braucht und sie am wenigsten bezahlen kann.

L. Hilberseimer

Anschriften der Mitarbeiter dieses Heftes:

Das Bildmaterial wurde von Architekt Heinrich Lauterbach, Breslau, und Dr. Hans Nowak zusammengestellt. Bei der Einteilung und
Beschriftung des Heftes haben uns die genannten Herren beraten und unterstützt.

Fotografen:

Aerokartographisches Institut A.G., Breslau 316 o., 320 u.
Herbert Bahlinger, Breslau 315 u. I., 324 o.

Heinrich Goetz, Breslau (Ed. van Delden) 302, 303 u., 308 o., 311, 320 o. r., 321 o., 322 o.

Heinrich Klette, Breslau 303 o., 304, 305 m., 305 u., 306, 307 o. r., 307 o. I., 309 u., 310 u., 312, 313 o., 314 o., 315 o., 315 u. r., 316 u., 317,

319 u., 321 u., 323 o. r., 324 u., 325 u., 328, 329 o.
Renger-Patzsch, Bad Harzburg 314 u., 318

Walter Silber, Breslau 301, 313 u., 319 o., 323 o. I., 323 u. I., 323 u. r.

(o — oben, u = unten, m = Mitte, r = rechts, I = links)

332
 
Annotationen