Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929
Cite this page
Please cite this page by using the following URL/DOI:
https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0589
DOI article:
Heuß, Hermann: Der Dienst am Kunden
DOI Page / Citation link: https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0589
RUNDSCHAU
Möbelauflasen in holzartiger Hartgußmasse
DER DIENST AM KUNDEN
Es gibt immer noch ganz erstaunliche Dinge auf
der Welt, Dinge, von denen sich der normale und
vom Formfortschritt überzeugte Werkbundverstand
nichts mehr träumen läßt. Die nebenbei existieren,
als ob in den letzten 25 Jahren nichts passiert wäre,
als ob alle heroischen Anstrengungen zur Hebung des
Geschmackniveaus — oder wie man es bezeichnen
will — überhaupt nicht geschehen wären. Außer-
dem scheint es ihnen auch in aller Stille recht gut
zu gehen, und sie haben sicher von sich aus keine
Veranlassung, sich umzustellen.
Vor mir liegt der Katalog einer sehr bekannten
Berliner Firma über Tischlerbedarf, der in dieser
Form bestimmt schon seit etlichen Jahrzehnten her-
auskommt. Nach einer einleitenden Bemerkung be-
dienen sich seiner weltbekannte Architekten wie der
kleinste Schreiner täglich. Es muß wohl wahr sein,
denn anders ließe sich ein solch immenses Sorti-
ment überhaupt nicht aufrechterhalten.
Man ist froh bewegt, hinter allerlei Schliche zu
kommen. Dankbar erfährt man, daß es immer noch
Möbelauflagen aus holzartiger Hartgußmasse gibt
und Amerika uns Patent-Gußauflagen liefert, daß
echte Intarsien serienweis angefertigt, die keine
Abziehbilder seien, daß immer noch prima Relief-
Stuhlsitze vertrieben werden, und was dergleichen
Intimitäten mehr sind. Man ist erfreut, die Herr-
schaft eines abgeklärten Renaissancestiles für alle
Ewigkeit stabilisiert zu wissen und maschinenge-
schnitzte oder naturholzgepreßte Leisten mit korrek-
ten Eierstäben und Kymatheon verschönt zu sehen. Aus ejnem Kata|og für Tischlerbedarf
Schließlich erkennt man mit Genugtuung, daß volles
Verständnis für neuzeitliche „Belange" vorhanden
ist und „dem modernen Geschmack entsprechend" bedürfnis menschlicher Natur zusammen, das vom
Sperrholztüren in zwei Größen mit und ohne Ver- Puritanismus der Tage sich instinkthaft abwendet
glasung angeboten werden. Möbelbeschläge be- und lächelnd zu irgendeinem Surrogat greift, das
kommt man in antikem und „modernem" Geschmack ihm von weniger konsequenter als geschäftstüch-
geliefert. Ganz witzig sind übrigens eingestreute tiger Seite in die Hand gedrückt wird?
Bildchen zur Belebung der etwas trockenen Materie Um sich das ganz gesunde Leben dieser „Kunst-
und der schlechten Aufmachung sowie zur Anpas- Industrie" nachdrücklich vor Augen zu führen,
sung an das jeweils Aktuelle verwendet, wie das braucht man bloß einmal durch die Möbelabteilung
klassische Profil, die Eleganz der Füße und dergl. der Leipziger Messe zu gehen: man ist wirklich er-
Im Ernst, das scheint mir doch eine ziemlich trau- schlittert. Wenn sich hier die tatsächlichen Ansprüche
rige Geschichte zu sein. Und auch etwas Stoff zum des breiten Publikums spiegeln — und, man darf
Nachdenken für den Werkbund. Kann man denn sich nicht darüber täuschen, das tun sie, — dann
solch gefährlichem Atavismus aus Großvaters Zei- haben wir nicht viel zustande bekommen,
ten nicht besser beikommen, weicht so etwas beim Es ist nutzlos, sich hierüber Illusionen hinzugeben.
Zugreifen immer kautschukartig aus, um um so zäher Die Arbeit, die zu leisten ist, steht immer noch in
an schmählicher Gewohnheit sich anzukleben? ihrem Anfang. Sie gehört immer noch zu den vor-
Oder liegt so etwas wie ein Gehenlassen einer Ge- nehmsten, wenn auch weniger in Erscheinung tre-
sinnung vor, der diese kleinen Dinge schon lange tenden Grundaufgaben des Werkbundes. Immer
nicht mehr interessant genug sind, die nur mit mög- noch steht Gewinnung der Gesinnung
licherweise kommenden Dingen sich abgeben will? gleichwichtignebenPropagierungdes
Oder hängt es einfach mit dem natürlichen Schmuck- Neuen. Es müßte möglich sein, hier, im Ur-
505
Möbelauflasen in holzartiger Hartgußmasse
DER DIENST AM KUNDEN
Es gibt immer noch ganz erstaunliche Dinge auf
der Welt, Dinge, von denen sich der normale und
vom Formfortschritt überzeugte Werkbundverstand
nichts mehr träumen läßt. Die nebenbei existieren,
als ob in den letzten 25 Jahren nichts passiert wäre,
als ob alle heroischen Anstrengungen zur Hebung des
Geschmackniveaus — oder wie man es bezeichnen
will — überhaupt nicht geschehen wären. Außer-
dem scheint es ihnen auch in aller Stille recht gut
zu gehen, und sie haben sicher von sich aus keine
Veranlassung, sich umzustellen.
Vor mir liegt der Katalog einer sehr bekannten
Berliner Firma über Tischlerbedarf, der in dieser
Form bestimmt schon seit etlichen Jahrzehnten her-
auskommt. Nach einer einleitenden Bemerkung be-
dienen sich seiner weltbekannte Architekten wie der
kleinste Schreiner täglich. Es muß wohl wahr sein,
denn anders ließe sich ein solch immenses Sorti-
ment überhaupt nicht aufrechterhalten.
Man ist froh bewegt, hinter allerlei Schliche zu
kommen. Dankbar erfährt man, daß es immer noch
Möbelauflagen aus holzartiger Hartgußmasse gibt
und Amerika uns Patent-Gußauflagen liefert, daß
echte Intarsien serienweis angefertigt, die keine
Abziehbilder seien, daß immer noch prima Relief-
Stuhlsitze vertrieben werden, und was dergleichen
Intimitäten mehr sind. Man ist erfreut, die Herr-
schaft eines abgeklärten Renaissancestiles für alle
Ewigkeit stabilisiert zu wissen und maschinenge-
schnitzte oder naturholzgepreßte Leisten mit korrek-
ten Eierstäben und Kymatheon verschönt zu sehen. Aus ejnem Kata|og für Tischlerbedarf
Schließlich erkennt man mit Genugtuung, daß volles
Verständnis für neuzeitliche „Belange" vorhanden
ist und „dem modernen Geschmack entsprechend" bedürfnis menschlicher Natur zusammen, das vom
Sperrholztüren in zwei Größen mit und ohne Ver- Puritanismus der Tage sich instinkthaft abwendet
glasung angeboten werden. Möbelbeschläge be- und lächelnd zu irgendeinem Surrogat greift, das
kommt man in antikem und „modernem" Geschmack ihm von weniger konsequenter als geschäftstüch-
geliefert. Ganz witzig sind übrigens eingestreute tiger Seite in die Hand gedrückt wird?
Bildchen zur Belebung der etwas trockenen Materie Um sich das ganz gesunde Leben dieser „Kunst-
und der schlechten Aufmachung sowie zur Anpas- Industrie" nachdrücklich vor Augen zu führen,
sung an das jeweils Aktuelle verwendet, wie das braucht man bloß einmal durch die Möbelabteilung
klassische Profil, die Eleganz der Füße und dergl. der Leipziger Messe zu gehen: man ist wirklich er-
Im Ernst, das scheint mir doch eine ziemlich trau- schlittert. Wenn sich hier die tatsächlichen Ansprüche
rige Geschichte zu sein. Und auch etwas Stoff zum des breiten Publikums spiegeln — und, man darf
Nachdenken für den Werkbund. Kann man denn sich nicht darüber täuschen, das tun sie, — dann
solch gefährlichem Atavismus aus Großvaters Zei- haben wir nicht viel zustande bekommen,
ten nicht besser beikommen, weicht so etwas beim Es ist nutzlos, sich hierüber Illusionen hinzugeben.
Zugreifen immer kautschukartig aus, um um so zäher Die Arbeit, die zu leisten ist, steht immer noch in
an schmählicher Gewohnheit sich anzukleben? ihrem Anfang. Sie gehört immer noch zu den vor-
Oder liegt so etwas wie ein Gehenlassen einer Ge- nehmsten, wenn auch weniger in Erscheinung tre-
sinnung vor, der diese kleinen Dinge schon lange tenden Grundaufgaben des Werkbundes. Immer
nicht mehr interessant genug sind, die nur mit mög- noch steht Gewinnung der Gesinnung
licherweise kommenden Dingen sich abgeben will? gleichwichtignebenPropagierungdes
Oder hängt es einfach mit dem natürlichen Schmuck- Neuen. Es müßte möglich sein, hier, im Ur-
505