keine p-Form, die man in der Schriftgießerei ge-
brauchen kann. Der Kreis scheint wirklich breiter
zu sein als ein Kreis; die wagerechten Teile
scheinen weniger stark gewölbt und fetter zu
sein als die im Kreis stehenden senkrechten
(Abb. 30, man vergleiche auch die Abb. 25
und 29).
Es ist hier nicht der Ort, über die Irradiation
zu sprechen, der besonders an den Verbindungs-
stellen von Ring und Stab entgegengearbeitet
werden muß, wenn die Schrift nicht ein flecki-
ges Aussehen behalten soll. Dazu kommt noch,
daß der gleiche hohe Stab, wie schon Ab-
bildung 30 zeigt, über die gleich hohen Kreis-
rundungen hinauszuragen scheint. Das alles be-
weist wohl zur Genüge, daß man mit elementaren
geometrischen Konstruktionen nicht auskommt,
wenn man elementare, konstruktive Formen für
das Auge schaffen will.
Wer das Problem weiter durchdenkt, wird die
Entdeckung machen, daß es sich mit der Form
auch nicht anders verhält als mit der Farbe.
Absolutes Blau, Gelb, Rot, Grün, Grau, Schwarz
oder Weiß gibt es nur als Begriff, nur als Idee,
während in der optischen Wirklichkeit alle Far-
ben relativ sind. Auch in der Wirklichkeit der
Formen gibt es für die Sphäre der Anschau-
ung nur das relativ Gerade, das relativ Spitze
und das relativ Runde. Und so wird in der Span-
nung und im Spiel der Formkontraste (also in der
künstlerischen Gestaltung) das absolut Runde
wohl immer durch ein relativ Rundes repräsen-
tiert werden — mit der gleichen Legitimität, mit
der geschnitzte Holzfiguren im Schachspiel als
König und Königin auftreten. Wenn die Mensch-
heit etwas vergißt, was sie schon einmal wußte,
muß sie viel Lehrgeld bezahlen, um es von neuem
zu lernen. Man sollte deshalb an diesen Unter-
schied zwischen der Welt der Begriffe und der
ganz anderen Welt der Anschauung immer wie-
der erinnern, weil dieser Gegensatz heute von
zwei Seiten geleugnet wird: von den künstlerisch
Unbegabten, die nur in der begrifflichen Sphäre
leben und aus ihr Programme für eine neue Kunst
entwerfen; ebenso aber von den starken und
fruchtbaren Künstlernaturen, den eigentlichen
Schöpfern der neuen Kunst, die allen intellektu-
ellen Programmen zum Trotz immer wieder un-
bewußt die Gesetze der Gestaltung erfüllen: sie
erleben die Welt so ganz und ausschließlich
durch ihre Augen, daß sie von der begrifflichen
Welt zu wenig wissen, in der das NUR-Konstru-
ierte allein Sinn haben könnte. Ob eine Konstruk-
tion richtig ist, das läßt sich nachrechnen; ob sie
aber den Anspruch erheben darf, in der Sphäre
der Anschauung, also als ein Werk der bildenden
Kunst zu gelten, darüber entscheidet nur das
menschliche Auge. Paul Renner
DAS BUCH UND SEINE GESTALTUNG
Beschriftung und Auswahl der Bilder besorgte der Verfasser
Bei der Gestaltung des Buches handelt es
sich wie bei der Architektur um ein Doppelpro-
blem: Das Buch soll wie das Haus nicht nur vor
allem nützlich, sondern auch schön, wenigstens
angenehm zu sehen sein. Wie eine Lösung zu
finden ist, die beiden Problemen gerecht wird,
werden wir bald sehen. Wir brauchen wohl kaum
lange zu suchen, denn wir wissen schon seit vie-
len Jahren, daß es sich im Grunde nicht um eine
kunstgewerbliche Schmuckangelegenheit handelt.
Es gibt Leute, die das Buch nur wegen seines Ein-
bandes lieben, aber der Einband ist der Fassade
des Hauses ähnlich und nur als letzte Ober-
fläche des Inhalts zu betrachten. Es
gibt aber auch Leute, die auf jede ästhetische
Aufmachung verzichten ur.d das Buch nur als
einen zeitlichen Ablauf von Geschehnissen be-
trachten. Einem solchen Buch fehlt jedes cha-
rakteristische Aussehen, es ist von Anfang bis
zu Ende ausdruckslos. Dieser Art ist das franzö-
sische Buch, die bekannte zitronengelbe Serie.
Die Bücher sind alle gleich, in schlechter Schrift-
type auf grauem Papier kaum leserlich gedruckt.
Die Buchblätter sind alle von verschiedener
Größe und die Buchstaben sind manchmal zu
fett, manchmal zu blaß. In Frankreich, wo kaum
ausländische Bücher auf den Markt kommen,
kennt man das Buch nur in der obenerwähnten
genormten, „automatischen" Form.
Im Gegensatz zu diesem langweiligen, automa-
tischen Buch kennen wir seit Ende des Krieges
das sogenannte gestaltete, „dynamische" Buch.
Es fällt wie eine Bombe auf Ihren Tisch und wirkt
durch Farben, Streifen, Punkte und Stäbe der-
maßen aggressiv, daß Sie das Gefühl haben, der
Autor hält Ihnen eine Pistole unter die Nase. Be-
trachten Sie das Buch etwas andächtiger, so
erkennen Sie sehr rasch, daß diese aggressive
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brauchen kann. Der Kreis scheint wirklich breiter
zu sein als ein Kreis; die wagerechten Teile
scheinen weniger stark gewölbt und fetter zu
sein als die im Kreis stehenden senkrechten
(Abb. 30, man vergleiche auch die Abb. 25
und 29).
Es ist hier nicht der Ort, über die Irradiation
zu sprechen, der besonders an den Verbindungs-
stellen von Ring und Stab entgegengearbeitet
werden muß, wenn die Schrift nicht ein flecki-
ges Aussehen behalten soll. Dazu kommt noch,
daß der gleiche hohe Stab, wie schon Ab-
bildung 30 zeigt, über die gleich hohen Kreis-
rundungen hinauszuragen scheint. Das alles be-
weist wohl zur Genüge, daß man mit elementaren
geometrischen Konstruktionen nicht auskommt,
wenn man elementare, konstruktive Formen für
das Auge schaffen will.
Wer das Problem weiter durchdenkt, wird die
Entdeckung machen, daß es sich mit der Form
auch nicht anders verhält als mit der Farbe.
Absolutes Blau, Gelb, Rot, Grün, Grau, Schwarz
oder Weiß gibt es nur als Begriff, nur als Idee,
während in der optischen Wirklichkeit alle Far-
ben relativ sind. Auch in der Wirklichkeit der
Formen gibt es für die Sphäre der Anschau-
ung nur das relativ Gerade, das relativ Spitze
und das relativ Runde. Und so wird in der Span-
nung und im Spiel der Formkontraste (also in der
künstlerischen Gestaltung) das absolut Runde
wohl immer durch ein relativ Rundes repräsen-
tiert werden — mit der gleichen Legitimität, mit
der geschnitzte Holzfiguren im Schachspiel als
König und Königin auftreten. Wenn die Mensch-
heit etwas vergißt, was sie schon einmal wußte,
muß sie viel Lehrgeld bezahlen, um es von neuem
zu lernen. Man sollte deshalb an diesen Unter-
schied zwischen der Welt der Begriffe und der
ganz anderen Welt der Anschauung immer wie-
der erinnern, weil dieser Gegensatz heute von
zwei Seiten geleugnet wird: von den künstlerisch
Unbegabten, die nur in der begrifflichen Sphäre
leben und aus ihr Programme für eine neue Kunst
entwerfen; ebenso aber von den starken und
fruchtbaren Künstlernaturen, den eigentlichen
Schöpfern der neuen Kunst, die allen intellektu-
ellen Programmen zum Trotz immer wieder un-
bewußt die Gesetze der Gestaltung erfüllen: sie
erleben die Welt so ganz und ausschließlich
durch ihre Augen, daß sie von der begrifflichen
Welt zu wenig wissen, in der das NUR-Konstru-
ierte allein Sinn haben könnte. Ob eine Konstruk-
tion richtig ist, das läßt sich nachrechnen; ob sie
aber den Anspruch erheben darf, in der Sphäre
der Anschauung, also als ein Werk der bildenden
Kunst zu gelten, darüber entscheidet nur das
menschliche Auge. Paul Renner
DAS BUCH UND SEINE GESTALTUNG
Beschriftung und Auswahl der Bilder besorgte der Verfasser
Bei der Gestaltung des Buches handelt es
sich wie bei der Architektur um ein Doppelpro-
blem: Das Buch soll wie das Haus nicht nur vor
allem nützlich, sondern auch schön, wenigstens
angenehm zu sehen sein. Wie eine Lösung zu
finden ist, die beiden Problemen gerecht wird,
werden wir bald sehen. Wir brauchen wohl kaum
lange zu suchen, denn wir wissen schon seit vie-
len Jahren, daß es sich im Grunde nicht um eine
kunstgewerbliche Schmuckangelegenheit handelt.
Es gibt Leute, die das Buch nur wegen seines Ein-
bandes lieben, aber der Einband ist der Fassade
des Hauses ähnlich und nur als letzte Ober-
fläche des Inhalts zu betrachten. Es
gibt aber auch Leute, die auf jede ästhetische
Aufmachung verzichten ur.d das Buch nur als
einen zeitlichen Ablauf von Geschehnissen be-
trachten. Einem solchen Buch fehlt jedes cha-
rakteristische Aussehen, es ist von Anfang bis
zu Ende ausdruckslos. Dieser Art ist das franzö-
sische Buch, die bekannte zitronengelbe Serie.
Die Bücher sind alle gleich, in schlechter Schrift-
type auf grauem Papier kaum leserlich gedruckt.
Die Buchblätter sind alle von verschiedener
Größe und die Buchstaben sind manchmal zu
fett, manchmal zu blaß. In Frankreich, wo kaum
ausländische Bücher auf den Markt kommen,
kennt man das Buch nur in der obenerwähnten
genormten, „automatischen" Form.
Im Gegensatz zu diesem langweiligen, automa-
tischen Buch kennen wir seit Ende des Krieges
das sogenannte gestaltete, „dynamische" Buch.
Es fällt wie eine Bombe auf Ihren Tisch und wirkt
durch Farben, Streifen, Punkte und Stäbe der-
maßen aggressiv, daß Sie das Gefühl haben, der
Autor hält Ihnen eine Pistole unter die Nase. Be-
trachten Sie das Buch etwas andächtiger, so
erkennen Sie sehr rasch, daß diese aggressive
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