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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929

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Renner, Paul: Praktische Vorschläge zum Farben-Unterricht
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https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0466

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PRAKTISCHE VORSCHLAGE ZUM
FARBEN-UNTERRICHT

Diese Ausführungen bilden den Abschluß der bereits in den Heften 4 und 11/29 erschienenen Artikel

DIE IRRADIATION

Wir dürfen aber die Untersuchung nicht abschlie-
ßen, ohne einen Vorgang zu behandeln, der den Gra-
phiker ganz besonders interessieren muß. Ich meine
die Irradiation. Eine spiegelglatte Oberfläche wirft
alle Lichtstrahlen im Einfallswinkel wieder zurück.
Sie wäre aber auch dann nicht weiß, wenn sie gar
kein Licht verschlucken würde. Jede weiße Ober-
fläche hat eine gewisse Rauhigkeit. Diese mit dem
bloßen Auge nicht immer, aber im Mikroskop deutlich
wahrnehmbare Zerklüftung der Oberfläche zerstreut
die einfallenden Lichtstrahlen nach allen Richtun-
gen hin. Es entsteht ein Sprühnebel von Licht, wie
bei einem Platzregen über dem Asphalt. Man kann
dem Silber, das plan und blank der schönste Spiegel
ist, durch Galvanisierung die Oberflächenstruktur
von Papier geben. Es ist dann schneeweiß wie da?
Papier selbst. Jeder schwarze Aufdruck auf dem
Papier ist durch die objektive Irradiation, also
durch das Streulicht des benachbarten weißen
Papieres an den Rändern aufgehellt. Die subjektive
Irradiation wirkt durch das Streulicht in der Horn-
haut des Auges im gleichen Sinne. Das weiße Papier
hat also einen schimmernden Lichthof, so wie das
photographierte Fenster auf einer nicht-lichthof-
freien, photographischen Platte, oder wie der Mond
bei dunstigem Wetter. Daher kommt es, daß die fet-
ten Schriften, die doch mit derselben Drucker-
schwärze gedruckt werden wie die mageren, viel
schwärzer aussehen als die mageren Schriften, ob-
wohl sie in Wirklichkeit nur breiter sind.

Aber wie denn? Es wird noch Niemand bei einer
fetten Schrift bemerkt haben, daß sie weiche, ins
Grau verschwimmende Ränder habe. Im Gegenteil
sind gerade immer diese Ränder tief schwarz! Doch
den Grund dafür haben wir ja schon vorhin kennen-
gelernt. Hier wirkt der oben so ausführlich beschrie-
bene Simultankontrast. Er hebt die Wirkung der
Irradiation an den Rändern auf. Aber nur an den
Rändern! Die Irradiation macht sich im Innern der
Buchstaben trotzdem und zuweilen recht störend
bemerkbar, und das Problem der Schriftgestaltung
ist deshalb nicht nur ein Problem der Form, son-
dern auch ein Problem der Farbe. Die Formgebung
muß immer zugleich auch diese äußerst empfind-
liche Palette der subjektiven Graunuancen meistern.
Denn überall dort, wo sich Linien kreuzen, beson-
ders dort, wo sie einen spitzen Winkel bilden, ent-
stehen im Buchstabenbild kleine Zonen, die von dem
irradiierenden, übergreifenden Licht des weißen
Papieres nicht aufgehellt werden. Das gibt dann
dunkle Flecken, welche die Schrift unruhig machen.

PRAKTISCHE VORSCHLÄGE

Aber nun genug von der Theorie! Es hat Jahr-
tausende in der Geschichte der Menschheit gege-

ben, in denen die künstlerische Gestaltung nicht das
geringste Verlangen hatte, sich theoretisch zu recht-
fertigen oder beraten zu lassen. Ja, wer weiß denn,
ob das Bewußtsein nicht jeder schöpferischen Lei-
stung der bildenden Kunst hindernd im Wege steht?
Hat etwa das Gestaltungsvermögen, das wir schon
in der anorganischen Natur der Kristalle sehen,
seine Wurzeln in den tieferen Schichten des Men-
schen, die ihm gemeinsam sind mit der vegetativen
und animalischen Natur? Und wenn das Gestal-
tungsvermögen wirklich in der geistigen Sphäre des
Menschen zu suchen wäre, erkrankt es dort nicht
unfehlbar, sobald es in den fahlen Lichtkreis des
Bewußtseins tritt? Welche Aufgabe aber kann dann
Kunsterziehung haben?

Wir leben seit 500 Jahren in einem Zeitalter fal-
scher, nicht zu Ende gedachter Theorien. Die künst-
lerischen Fehlleistungen der letzten Jahrhunderte
haben ihre tiefste Ursache in diesem Dogmatismus,
der den natürlichen Schaffensprozeß verwirrt hat.
Und die dringlichste Aufgabe jeder Kunsterziehung
ist deshalb, daß sie das Unkraut unbegründeter
Regeln und Kunstrezepte, vor denen heute auch
unsere Jugend nicht zu schützen ist, ausjätet.

Ich wünschte, daß wir kein Wort mehr zu verlieren
brauchten über das allzu simple Rezept Ostwalds,
der die harmonischen Dreiklänge und Vierklänge aus
einer Dreiteilung und Vierteilung des Farbenkreises
gewinnen will. Es hat deshalb im Gewerbe einen so
großen Schaden angestiftet, weil es systematisch
verhindert, daß auch einmal die blinde Henne ein
Korn findet. Wenn man zwanzig farbige Zusam-
menstellungen nach diesem Rezept macht, dann
sind sie bestimmt alle zwanzig schlecht und sinn-
los. Wer sich um gar keine Regel kümmert, kann
doch wenigstens durch Schaden klug werden. Sind
die ersten Zusammenstellungen schlecht, dann wird
er doch vielleicht nachdenklich, und fragt sich,
woran das liegt. Und bei weiteren Versuchen findet
er vielleicht doch einige, die besser geraten sind
als die ersten. Und so ist doch wenigstens der An-
fang gemacht zu einer persönlichen Erfahrung.

Dies ist schon ohne Methode möglich, wenn wir
uns den Weg nicht durch eine schiefe Theorie ver-
sperren. Alle unsere Unterrichtsverfahren können
ja nur dies eine Ziel haben, daß sie dem Schüler die
Augen öffnen; daß sie ihn lehren, Farben zu sehen;
daß sie ein GESICHT für Farben ausbilden, wie der
Musiker ein GEHÖR hat.

Farben-Sehen das heißt zunächst Farben-Unter-
scheiden. Das heißt aber weiterhin die Unterschiede
der Farben erleben als eine gegenseitige Bindung
von bestimmtem Charakter. Und wer einmal so weit
ist, lernt dann bald solche farbigen Beziehungen
in den Techniken und Farbstoffen, mit denen er
arbeitet, selbst zu schaffen, und zwar so, daß sie

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