KRITISCHE ANMERKUNGEN ZUM
FARBEN-UNTERRICHT
Diese Ausführungen sind als Fortführung der Ausführungen Renners in Heft 4/29 der Form gedacht und werden in einem
der nächsten Hefte noch eine Ergänzung erhalten
ORDNUNG DER FARBEN
Wenn wir im Geiste um jede Farbe diejenigen Far-
ben anordnen, die ihr am ähnlichsten sind, so be-
kommen wir zahllose sich durchkreuzende Ähnlich-
keitsreihen. Von zwei Farben irgendwelcher Be-
schaffenheit ist die eine immer heller, die andere
dunkler, wenn sie nicht gleich hell oder gleich dunkel
sind. Alle Farben lassen sich also anordnen
zwischen dem hellen Pol, den wir, wenn von Farben-
gattungen gesprochen wird, Weiß nennen, und dem
dunklen Pol des Schwarz.
Wir haben diese gegensätzliche Beziehung aller
denkbaren Farben nicht ohne Grund zuerst genannt.
Philosophische Überlegung und psychologische Ver-
suche ergeben, daß Helligkeit und Dunkelheit der
Farben allen anderen Bestimmungen übergeordnet
und, wie man sagt: vorgegeben sind.
Wenn uns eine Fläche von einer bestimmten far-
bigen Qualität nur während einer winzigen Zeit-
spanne, nur während des Bruchteils einer Sekunde
gezeigt wird, so erkennen wir ihren Helligkeitsgrad
noch ziemlich genau, ohne den eigentlichen Farbton
bestimmen zu können. Um eine Form wahrzunehmen,
braucht man sich von der Farbigkeit dieser Form
keine Rechenschaft abzulegen. „In der Nacht sind
alle Katzen grau", aber sie werden doch als Katzen
erkannt. Deshalb vermissen wir ja auch in der
Graphik und Photographie niemals die volle Farbig-
keit; und die Monochromie wird immer neben der
Polychromie ihr Recht behaupten.
Von den reinen Spektralfarben Rot, Orange, Gelb,
Grün, Blau, Violett ist im Tageslicht Gelb weitaus
am hellsten; die Farben werden dann dunkler nach
beiden Enden des Spektrums hin. In der Dämmerung,
etwa im blassen Schein des Mondes, verschiebt sich
diese höchste Helligkeit auf das Blau zu. Grün ist
dann heller wie Gelb, Blau heller wie Rot. Man
erinnere sich, wie schwarz bei einbrechender Nacht
die roten Dächer werden; auf den grünen Bäumen
und Wiesen liegt dann ein merkwürdiges, fahles
Licht. Was bei Tage blau war, behält am längsten
sein farbiges Aussehen. Wenn es noch dunkler wird,
erkennen wir keine Farben mehr, sondern nur noch
diesen veränderten Helligkeitswert.
Den hellen Pol haben wir Weiß genannt. Wenn wir
nicht von Farbgattungen, sondern von Oberflächen-
farben sprächen, wäre „Weiß" die Farbe einer Ober-
fläche, die alles Licht diffus zurückwirft; „Schwarz"
die Farbe einer Oberfläche, die alles Licht ver-
schluckt. Wenn von Empfindungen die Rede wäre,
so dürften wir nicht von einer absoluten Dunkelheit
sprechen und noch viel weniger von einer absoluten
Helligkeit. Denn die Intensitätssteigerung des Lich-
tes überschreitet schon innerhalb der meßbaren
Grenzen das Maß dessen, was ein menschliches
Auge ohne Schädigung zu ertragen vermag. Man
sieht, in welche unlösbaren Scheinprobleme die Wis-
senschaft geraten muß, wenn sie die verschiedenen
Bedeutungen des Wortes Farbe nicht auseinander-
hält.
Zwischen dem weißen und schwarzen Pol lassen
sich in Schichten gleicher Helligkeit alle übrigen
Farbengattungen anordnen. Die Achse zwischen
diesen beiden Polen enthält dann alle Abstufungen
des neutralen Grau. Die Ubergänge zwischen
Schwarz und Weiß sind stetig; also sind unendlich
viele Grau-Stufen denkbar. Wenn ich den Begriff
der psychologischen Schwelle, des kleinsten noch
bemerkbaren Unterschiedes einführe, so ist nicht
mehr von Farbengattungen die Rede, sondern von
Oberflächenfarben, die mit dem recht unzuverlässi-
gen Augenmaß des Menschen verglichen und unter-
schieden werden. Man hat gesagt, daß mehr als
hundert solcher Graustufen nicht zu unterscheiden
wären und für die Praxis fünfundzwanzig weitaus
genügten. Dies sei zugegeben für die Praxis eines
Farbenatlasses. Für die Praxis des Graphikers und
Malers aber genügen weder die fünfundzwanzig
noch die hundert grauen Oberflächenfarben eines
solchen Farbenatlasses. Selbst wenn man einmal
annehmen wollte, es gäbe Oberflächenfarben von
absolut neutralem Grau, so würde man doch für jede
Helligkeitsstufe dieses neutralen Graus noch unend-
lich viele Grauqualitäten annehmen müssen, die das
Auge ohne weiteres zu unterscheiden vermag.
Völlig neutrales Grau von ganz gleicher Helligkeits-
stufe hätte, wenn es wirklich vorkäme, ein verschie-
denes Aussehen in Tempera- und in Ölfarbe, in lasie-
rendem und in deckendem Auftrag. Es wäre ver-
schieden bei gleichmäßig gedecktem Ton, wenn es
also mit grauer Farbe voll ausgedruckt wäre, und
verschieden, wenn das Grau in optischer Mischung
als Punktraster, Linienraster oder Kornraster mit
schwarzer Farbe auf weißem Papier zustande käme.
Der graue Ton wäre anders, wenn die Rasterlinien
eng und dünn oder wenn sie weiter und gröber
wären. Und so wäre dieses ganz gleich helle, durch-
aus neutrale Grau noch einmal verschieden bei
jedem Material: bei grauem Holz anders als bei
grauem Papier oder bei Metall usw.
Man verstehe mich wohl: ich meine nicht die Ver-
schiedenheit des Aussehens, die sich bei Seide und
anderen glänzenden Oberflächen an den verschie-
denen Stellen des gleichen Stoffes zeigt Denn hier
sind Helligkeit und Farbton in den Teilerscheinungen
eines und desselben Stoffes wirklich verschieden.
Der Unterschied des Aussehens, von dem ich
spreche, ist aber bei gleichbleibender Helligkeit
und bei gleichem Farbton schon in dem kleinsten
Ausschnitt bemerkbar, den man durch eine winzige,
mit der Nadel in ein schwarzes Papier gestochene
Öffnung wahrnimmt. Und so verhält es sich mit
jeder anderen Farbengattung. Nur diese Farben-
spezies lassen sich also in ein System bringen, so
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FARBEN-UNTERRICHT
Diese Ausführungen sind als Fortführung der Ausführungen Renners in Heft 4/29 der Form gedacht und werden in einem
der nächsten Hefte noch eine Ergänzung erhalten
ORDNUNG DER FARBEN
Wenn wir im Geiste um jede Farbe diejenigen Far-
ben anordnen, die ihr am ähnlichsten sind, so be-
kommen wir zahllose sich durchkreuzende Ähnlich-
keitsreihen. Von zwei Farben irgendwelcher Be-
schaffenheit ist die eine immer heller, die andere
dunkler, wenn sie nicht gleich hell oder gleich dunkel
sind. Alle Farben lassen sich also anordnen
zwischen dem hellen Pol, den wir, wenn von Farben-
gattungen gesprochen wird, Weiß nennen, und dem
dunklen Pol des Schwarz.
Wir haben diese gegensätzliche Beziehung aller
denkbaren Farben nicht ohne Grund zuerst genannt.
Philosophische Überlegung und psychologische Ver-
suche ergeben, daß Helligkeit und Dunkelheit der
Farben allen anderen Bestimmungen übergeordnet
und, wie man sagt: vorgegeben sind.
Wenn uns eine Fläche von einer bestimmten far-
bigen Qualität nur während einer winzigen Zeit-
spanne, nur während des Bruchteils einer Sekunde
gezeigt wird, so erkennen wir ihren Helligkeitsgrad
noch ziemlich genau, ohne den eigentlichen Farbton
bestimmen zu können. Um eine Form wahrzunehmen,
braucht man sich von der Farbigkeit dieser Form
keine Rechenschaft abzulegen. „In der Nacht sind
alle Katzen grau", aber sie werden doch als Katzen
erkannt. Deshalb vermissen wir ja auch in der
Graphik und Photographie niemals die volle Farbig-
keit; und die Monochromie wird immer neben der
Polychromie ihr Recht behaupten.
Von den reinen Spektralfarben Rot, Orange, Gelb,
Grün, Blau, Violett ist im Tageslicht Gelb weitaus
am hellsten; die Farben werden dann dunkler nach
beiden Enden des Spektrums hin. In der Dämmerung,
etwa im blassen Schein des Mondes, verschiebt sich
diese höchste Helligkeit auf das Blau zu. Grün ist
dann heller wie Gelb, Blau heller wie Rot. Man
erinnere sich, wie schwarz bei einbrechender Nacht
die roten Dächer werden; auf den grünen Bäumen
und Wiesen liegt dann ein merkwürdiges, fahles
Licht. Was bei Tage blau war, behält am längsten
sein farbiges Aussehen. Wenn es noch dunkler wird,
erkennen wir keine Farben mehr, sondern nur noch
diesen veränderten Helligkeitswert.
Den hellen Pol haben wir Weiß genannt. Wenn wir
nicht von Farbgattungen, sondern von Oberflächen-
farben sprächen, wäre „Weiß" die Farbe einer Ober-
fläche, die alles Licht diffus zurückwirft; „Schwarz"
die Farbe einer Oberfläche, die alles Licht ver-
schluckt. Wenn von Empfindungen die Rede wäre,
so dürften wir nicht von einer absoluten Dunkelheit
sprechen und noch viel weniger von einer absoluten
Helligkeit. Denn die Intensitätssteigerung des Lich-
tes überschreitet schon innerhalb der meßbaren
Grenzen das Maß dessen, was ein menschliches
Auge ohne Schädigung zu ertragen vermag. Man
sieht, in welche unlösbaren Scheinprobleme die Wis-
senschaft geraten muß, wenn sie die verschiedenen
Bedeutungen des Wortes Farbe nicht auseinander-
hält.
Zwischen dem weißen und schwarzen Pol lassen
sich in Schichten gleicher Helligkeit alle übrigen
Farbengattungen anordnen. Die Achse zwischen
diesen beiden Polen enthält dann alle Abstufungen
des neutralen Grau. Die Ubergänge zwischen
Schwarz und Weiß sind stetig; also sind unendlich
viele Grau-Stufen denkbar. Wenn ich den Begriff
der psychologischen Schwelle, des kleinsten noch
bemerkbaren Unterschiedes einführe, so ist nicht
mehr von Farbengattungen die Rede, sondern von
Oberflächenfarben, die mit dem recht unzuverlässi-
gen Augenmaß des Menschen verglichen und unter-
schieden werden. Man hat gesagt, daß mehr als
hundert solcher Graustufen nicht zu unterscheiden
wären und für die Praxis fünfundzwanzig weitaus
genügten. Dies sei zugegeben für die Praxis eines
Farbenatlasses. Für die Praxis des Graphikers und
Malers aber genügen weder die fünfundzwanzig
noch die hundert grauen Oberflächenfarben eines
solchen Farbenatlasses. Selbst wenn man einmal
annehmen wollte, es gäbe Oberflächenfarben von
absolut neutralem Grau, so würde man doch für jede
Helligkeitsstufe dieses neutralen Graus noch unend-
lich viele Grauqualitäten annehmen müssen, die das
Auge ohne weiteres zu unterscheiden vermag.
Völlig neutrales Grau von ganz gleicher Helligkeits-
stufe hätte, wenn es wirklich vorkäme, ein verschie-
denes Aussehen in Tempera- und in Ölfarbe, in lasie-
rendem und in deckendem Auftrag. Es wäre ver-
schieden bei gleichmäßig gedecktem Ton, wenn es
also mit grauer Farbe voll ausgedruckt wäre, und
verschieden, wenn das Grau in optischer Mischung
als Punktraster, Linienraster oder Kornraster mit
schwarzer Farbe auf weißem Papier zustande käme.
Der graue Ton wäre anders, wenn die Rasterlinien
eng und dünn oder wenn sie weiter und gröber
wären. Und so wäre dieses ganz gleich helle, durch-
aus neutrale Grau noch einmal verschieden bei
jedem Material: bei grauem Holz anders als bei
grauem Papier oder bei Metall usw.
Man verstehe mich wohl: ich meine nicht die Ver-
schiedenheit des Aussehens, die sich bei Seide und
anderen glänzenden Oberflächen an den verschie-
denen Stellen des gleichen Stoffes zeigt Denn hier
sind Helligkeit und Farbton in den Teilerscheinungen
eines und desselben Stoffes wirklich verschieden.
Der Unterschied des Aussehens, von dem ich
spreche, ist aber bei gleichbleibender Helligkeit
und bei gleichem Farbton schon in dem kleinsten
Ausschnitt bemerkbar, den man durch eine winzige,
mit der Nadel in ein schwarzes Papier gestochene
Öffnung wahrnimmt. Und so verhält es sich mit
jeder anderen Farbengattung. Nur diese Farben-
spezies lassen sich also in ein System bringen, so
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