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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929

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Kramer, Ferdinand: Die Wohnung für das Existenzminimum
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https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0755

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DIE WOHNUNG FÜR DAS EXISTENZMINIMUM

Schon vor dem Kriege und seit der Gründer-
zeit war das Problem der Massenwohnung nicht
gelöst. Die unter spekulativen Gesichtspunkten
gebauten Massenquartiere, sogenannte slums,
sind ja bekannt; die Statistiken der Großstädte
zeigen deutlich die sozialen Folgen dieser Wohn-
weise. In Berlin gibt es z. B. in der Königgrätzer
Straße 169 Wohnungen mit 360 Personen pro
Haus, in der Ackerstraße 216 Wohnungen mit
688 Personen pro Haus, in der Hussitenstraße
241 Wohnungen mit 972 Personen pro Haus. Die
katastrophale Zuspitzung des Wohnproblems
wäre auch ohne den Krieg kaum zu verhindern
gewesen, zumal es in einer reinen individuellen
Wirtschaftsepoche, die nur mit dem Unternehmer
rechnete, schwer war, durch die Gesetzgebung
Abhilfe zu schaffen.

Der Zeitpunkt einer Katastrophe war damals
schon in der Nähe. Durch den Krieg und seine
verheerenden Folgen wurde zunächst überhaupt
jede Bautätigkeit abgeschnitten. Die Zwangs-
wirtschaft des Wohnungsmarktes hatte aber
zur Folge, daß der Gedanke einer unter
rationellen und kollektiven Gesichtspunkten
durchgeführten Wohnungswirtschaft der Allge-
meinheit vertraut wurde. Staat und Kommunen
haben die Besiedlung großer Baukomplexe in
die Hand genommen. Über die richtigen Metho-
den einer solchen Siedlungspolitik wird viel de-
battiert, ohne daß sich bis heute eine klare und
einheitliche Richtung dabei herauskristallisiert
hätte. Vor allem ist noch unentschieden, ob für
diese Wohnbauten das Etagenhaus oder das Ein-
familienhaus aus wirtschaftspolitischen Gründen
vorzuziehen ist. Fast jede Kommune steht vor
dem Problem, die Versäumnisse der Kriegs- und
Inflationszeit nachzuholen und dem jährlichen
Bevölkerungszuwachs entsprechende Ergänzun-
gen vorzunehmen. Dazu kommen noch Sanie-
rungsarbeiten für die Altstadtgebiete, die bisher
durch die ästhetische, sentimental verlogene Ein-
stellung der Heimatschutzbünde und ähnlicher
Vereinigungen, fälschlicherweise entgegen allen

vernünftigen Überlegungen konserviert wurden.
Die Finanzierung dieser riesigen Bauvorhaben
erfolgt heute zum großen Teil durch die Haus-
zinssteuer, deren Verwendung für die öffentliche
Wohnungswirtschaft in vollem Umfange ge-
sichert werden müßte. Nur so kommt auch der
soziale Gedanke, der dieser Steuer von Anfang
zu Grunde lag, wirklich zur Geltung: sie schafft
einen Ausgleich zwischen den immobilen Geld-
werten, die von der Inflation verschont blieben,
und den übrigen Vermögenswerten.

Die politische Macht der proletarischen
Schichten ist derartig gewachsen, daß sich
heute auch das Kapital selbst das sozialistische
Wohnungsprogramm angeeignet hat und zu sei-
ner Verwirklichung beizutragen gezwungen ist.

Welche Mittel gibt es HEUTE nun, die Woh-
nungsnot zu beheben? Diese Frage hat durch
den in Frankfurt (Main) s. Zt. tagenden interna-
tionalen Kongreß für Neues Bauen eine beson-
ders aktuelle Note erhalten. Bei allen Lösungen
ist zu berücksichtigen, daß die Bedürfnisse der
Bevölkerung heute größere und andere geworden
sind. Man ist anspruchsvoller geworden, Licht,
Luft und Hygiene sind selbstverständliche For-
derungen. Soweit wir die Situation überblicken
können, sind drei markante Gesichtspunkte vor-
handen, die der kommunale Wohnungsbau be-
rücksichtigen müßte, wenn er den wirtschaft-
lichen, sozialen und bevölkerungspolitischen Be-
dingungen genügen will:

1. Normierung des Materials und der Konstruk-
tion.

2. Anwendung verbilligter Arbeitsmethoden auf
den Wohnungsbau.

3. Zentralisierung der wichtigsten Haushalts-
funktionen.

Die konstruktiven Elemente müssen soweit
reduziert werden, daß ihre Anpassung an die
konkreten Bedürfnisse je nach der Situation
möglich bleibt. Diese Situation wird durch den
Zweck, die Lage, den Zeitpunkt und die vorhan-

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