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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929

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Renner, Paul: Konstruktive und konstruierte Form
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https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0660

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rechten Linien ausgefüllt ist und erscheint in
die Breite gezogen, wenn die ausfüllenden
Linien schräg stehen (Abb. 5).

Ein weißes Quadrat auf schwarzem Grunde
wirkt größer als ein schwarzes von gleichem
Flächeninhalte auf weißem Grunde (Abb. 6
und 7).

Von einer wagerechten Linie, die maßstäb-
lich genau in der Mitte geteilt ist, erscheint der
Teil kürzer, der rechts und links spitzwinklig
begrenzt wird; der in stumpfen Winkeln aus-
laufende wirkt erheblich größer (Abb. 8).

Wir hatten schon erwähnt, daß jede senk-
rechte Strecke größer erscheint als die maß-
stäblich ebenso große wagerechte. Wenn aber
die senkrechte spitzwinklig endigt, erscheint
sie kleiner als die in stumpfen Winkeln en-
dende, maßstäblich gleichgroße wagerechte
(Abb. 4).

Spitze Winkel wirken für die Anschauung
nicht so spitz, wie sie ihrer mathematischen
Konstruktion nach wirklich sind. In der Kon-
struktion sind zwei Linien immer dann parallel,
wenn sie gleichen Abstand voneinander haben
(Abb. 9). Für die Anschauung sind aber die
gleichen Linien nicht mehr parallel, wenn sie
von spitzen Winkeln durchschnitten oder be-
rührt werden (Abb. 10 bis 13). Das Phänomen
ist am auffälligsten in Abbildung 14; wenn wir
uns aber bei der gleichen Zeichnung in Abbil-
dung 15 bemühen, ein weißes Grätenmuster
auf schwarzem Grunde zu sehen, erscheinen
die Streifen wieder parallel.

Auf diesem Stumpfer-Wirken aller spitzen
Winkel beruht auch die Erscheinung, daß eine
Linie, die zwei andere gleichlaufende im
spitzen Winkel durchschneidet, bei den Über-
schneidungsstellen abgebrochen und verscho-
ben wirkt (Abb. 16 bis 18), und daß ihre Ver-
längerung etwa bei Abbildung 19 keineswegs
dort auftreffen würde, wo das Auge es ver-
mutet.

Ja, die Behauptung ist gar nicht so para-
dox, daß ein mit dem Zirkel konstruierter Kreis
vor dem sensiblen und kritischen Auge des
Künstlers durchaus nicht immer als die ideale
Kreisform bestehen kann. Wer wie ich vier
Jahre lang an einer konstruktiven Schrift ge-
arbeitet und gebaut hat, kennt die sonderbaren
Formprobleme zur Genüge, an die wir damit
rühren. In Abbildung 20 ist in einen Kreis ein
Geviert eingezeichnet; man sieht auf den
ersten Blick, daß die Kreisform dadurch ver-
loren gegangen ist. Der Kreis erscheint neben
den Spitzen flacher, breitgedrückt, weniger

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