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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929

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Renner, Paul: Warum geben wir an Kunstschulen immer noch Schreibunterricht?
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https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0075

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WARUM GEBEN WIR AN KUNSTSCHULEN IMMER
NOCH SCHREIBUNTERRICHT?

Wir stellen diesen Aufsatz an die Spitze des Heftes,
weil er weit über diese Frage hinaus grundsätzliche
Probleme behandelt.

Die Schriftleitung

Wir wissen, daß wir nicht dem vom Einzelnen
ein einziges Mal angefertigten Hand-Werk oder
Kunst-Werk die eigentlich moderne Formenwelt
verdanken, sondern der maschinellen Technik
und ihrer Serienarbeit; derselben Kraft, die vor
achtzig Jahren den Zusammenbruch der Künste
herbeigeführt hat. Der neue Stil bedeutet nichts
anderes, als die wiedergewonnene Herrschaft
des Menschen über die Maschine. Aber mir
scheint, daß wir zu laut mit unserm Siege prah-
len; mir scheint, daß wir ein wenig berauscht und
sorglos, wie Sieger zu sein pflegen, die Gefahr
übersehen, die uns abermals von der Besiegten
droht. Döblin schreibt irgendwo: „Die Maschine
ist in die Menschheit gesetzt. Sie zerreißt alles
in zwei Stücke. Aber man bekommt die Bestie
doch wieder unter. Das ist die seit Jahrzehnten
ablaufende Revolution." Es ist im Grunde nur
eine Gegenrevolution, der es noch nicht geglückt
ist, den Aufstand der Schöpfung gegen den
Schöpfer zu bezwingen. Immer noch sind es die
toten Dinge, die vom Menschen selbst erschaf-
fenen Dinge, die er mehr zu fürchten hat als den
Menschen selbst.

Ich liebe die Maschine, obwohl (oder weil) ich
um ihre Dämonie weiß. Ich gehöre nicht zu
denen, die heute noch ihre Ebenbürtigkeit be-
zweifeln, indem sie sagen, ihr Erzeugnis könne
wie die schöne Naturform nur ästhetisches
Wohlgefallen erwecken, die KÜNSTLERISCHE
Wirkung sei der Handarbeit vorbehalten. Es ist
an der Zeit, daß wir die Hohlheit dieses Kunst-
begriffes erkennen, der uns, wenn wir nur
einmal fester zugreifen, als leere Hülse in der
Hand zerbricht. Wenn Sokrates schon nicht
verstehen konnte, was man in einer Rede-Schule

lehre, wenn er schon in der REDE-KUNST sei-
ner Zeit Ursache und Anzeichen des allgemeinen
Verfalls erblickte, weil nun der Kunst-Redner
sich anmaße, besser über den Bau von Schiffen,
über das Wohl des Leibes zu sprechen als die
Schiffbauer und Ärzte, wie könnten wir ihm
erklären, was das für eine KUNST sei, die
man auf Kunstschulen lehre? Was hätte er
zu dieser KUNST an sich, zu dieser KUNST
schlechthin gesagt, zu dieser Kunst der Kunst-
Städte und Kunst-Händler? Ist das nicht ein
Ding, aus dem noch viel ärger als aus der Rede-
Kunst alle Substanz wie von Termiten wegge-
fressen worden ist? Bei den Griechen hieß
TECHNE das gleiche, was unser deutscher
Sprachgebrauch, wenn wir ihm nicht Gewalt an-
tun, unter Kunst versteht. Wir sprechen von
Reitkunst, Fechtkunst, Baukunst, Heilkunst, von
der Kunst des Fliegens, Schreibens, Malens, von
der Kunst des Steinmetzens, des Schauspielers,
des Staatsmanns und Feldherrn. Es gibt keine
Kunst, in der nicht beinahe alles Technik wäre.
Die Technik des Sängers ist nicht einfacher als
die Technik des allerkompliziertesten Instrumen-
tes. Kunst ist wirklich gekonnte, also auch
GEISTIG beherrschte, geistig ERFÜLLTE
Technik. Technik und Kunst sind zwei Sei-
ten einer und derselben Sache, die im gesunden
Zustande niemals auseinandertreten. Erst als
die Technik in der Neuzeit so reich und vielseitig
wurde, daß der Mensch die Herrschaft über sie
verlor, daß er zumal die formale Aufgabe, das
Formproblem, das mit jeder neuen Technik ge-
stellt wird, nicht mehr bewältigte, kam der Be-
griff TECHNIK auf für den Bezirk der von ihm
geistig noch NICHT beherrschten Techniken,

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