Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929
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Richter, Hans: Neue Mittel der Film-Gestaltung
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noch in vieler Beziehung recht konventionell mit
dem Licht.)
Entscheidender fast, jedenfalls aber noch un-
geklärter ist das Problem der Bewegung. Wenn
man von Bewegung spricht, so nimmt man da
etwas als gegeben an, was in Wirklichkeit unbe-
kannt ist, so unbekannt, daß man nicht einmal
ein Problem darin sieht. Man versteht unter Be-
wegung allgemein den natürlichen, den automati-
schen Zeitverlauf irgendeiner Handlung, die nor-
male Bewegung, die natürliche Funktion eines
natürlichen Objekts, so etwa: Ein Mensch läuft,
ein Vogel fliegt. Das Laufen und Fliegen sind
in der Natur durch die Gesetze der Natur fest-
gelegt, das Laufen und Fliegen im Film unter-
liegen den Gesetzen des Films: ein Mann in
höchster Aufregung, man sieht nur seine Beine:
Er geht (unentschlossen)
4 Schritte vor und 3 zurück,
8 Schritte vor und 2 zurück,
12 Schritte vor und 1 zurück.
Das ist ein extremer Fall und wäre auf der
Straße völliger Unfug, im Film möglicherweise
höchste Spannung, das rhythmische Vor und
Zurück Mittel gesteigerten Ausdrucks.
Der sehr natürlich aufgenommene Flug eines
Vogels muß keineswegs den Eindruck des Flie-
gens tatsächlich wiedergeben. Es gehören die
Mittel der Kunst, eine filmische Ordnung der ein-
zelnen Flugmomente dazu, um es auf der Lein-
wand anschaulich zu machen.
Es ist nicht die natürliche Bewegung allein, die
den Dingen im Film ihren Ausdruck verleiht, son-
dern die künstliche, die in sich rhythmisch ge-
ordnete, in der Steigen und Fallen, Vor und Zu-
rück, Teile eines künstlerischen Planes sind.
Die Mittel des Bewegungsstils sind auch heute
schon zahlreich. Die Zeitlupe schafft aus einer
gewöhnlichen, d. h. ausdruckslosen Bewegung
— ein Wunder. Der Zeitraffer bringt in 60 Se-
kunden eine Blüte zum Blühen. So ist man an
die Kunst der Bewegung gewissermaßen von
außen her vom Technischen gekommen.
Soweit es sich im Film überhaupt um eine
Kunst handelt, nicht nur um eine Lunaparkange-
legenheit, sind die oben erwähnten Fragen von
entscheidender Bedeutung.
Ob ein Film ein großes oder ein kleines Publi-
kum finden wird, ist dabei unwichtig, so ent-
scheidend diese Frage für den Film im allgemei-
nen auch sein muß.
Daß die Entwicklung der jungen Filmkunst in
Europa sich in einer „Avantgarde" vollzieht —
abseits von der Industrie, in Rußland aber gerade
die kühnsten Versuche im Spielfilm eine allen
sofort verständliche Form annehmen, liegt an der
Verschiedenheit der gesellschaftlichen Struktur.
Man hat dort keine „Avantgarde", weil man den
Film nicht zur Unterhaltung macht, sondern ihn
zum öffentlichen Leben und für alle Fragen die-
ses Lebens braucht.
Solche Aufgaben ziehen die schöpferischen
Kräfte zu ganz konkreten Arbeiten, in denen sie
ihre Kunst entfalten und anwenden können, her-
an, während die junge Generation Westeuropas
außerhalb der eigentlichen Produktion bleibt.
In unserer uneinheitlichen Gesellschaft stehen
sich Industrie (wirtschaftlich orientiert) und
„Avantgarde" (künstlerisch orientiert) noch fremd
gegenüber. Die Auflösung dieses Gegensatzes
ist weniger eine Frage der künstlerischen als
vielmehr der gesellschaftlichen Entwicklung. Die
Verschmelzung von Spielfilm und Kunstfilm zum
„FILM" geht sehr langsam vor sich, aber sie voll-
zieht sich trotzdem. Hans Richter
Wohnungsbauten in Namslau-Schl.
Architekten Gerhard Schönborn und Hugo Leipziger, Breslau
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dem Licht.)
Entscheidender fast, jedenfalls aber noch un-
geklärter ist das Problem der Bewegung. Wenn
man von Bewegung spricht, so nimmt man da
etwas als gegeben an, was in Wirklichkeit unbe-
kannt ist, so unbekannt, daß man nicht einmal
ein Problem darin sieht. Man versteht unter Be-
wegung allgemein den natürlichen, den automati-
schen Zeitverlauf irgendeiner Handlung, die nor-
male Bewegung, die natürliche Funktion eines
natürlichen Objekts, so etwa: Ein Mensch läuft,
ein Vogel fliegt. Das Laufen und Fliegen sind
in der Natur durch die Gesetze der Natur fest-
gelegt, das Laufen und Fliegen im Film unter-
liegen den Gesetzen des Films: ein Mann in
höchster Aufregung, man sieht nur seine Beine:
Er geht (unentschlossen)
4 Schritte vor und 3 zurück,
8 Schritte vor und 2 zurück,
12 Schritte vor und 1 zurück.
Das ist ein extremer Fall und wäre auf der
Straße völliger Unfug, im Film möglicherweise
höchste Spannung, das rhythmische Vor und
Zurück Mittel gesteigerten Ausdrucks.
Der sehr natürlich aufgenommene Flug eines
Vogels muß keineswegs den Eindruck des Flie-
gens tatsächlich wiedergeben. Es gehören die
Mittel der Kunst, eine filmische Ordnung der ein-
zelnen Flugmomente dazu, um es auf der Lein-
wand anschaulich zu machen.
Es ist nicht die natürliche Bewegung allein, die
den Dingen im Film ihren Ausdruck verleiht, son-
dern die künstliche, die in sich rhythmisch ge-
ordnete, in der Steigen und Fallen, Vor und Zu-
rück, Teile eines künstlerischen Planes sind.
Die Mittel des Bewegungsstils sind auch heute
schon zahlreich. Die Zeitlupe schafft aus einer
gewöhnlichen, d. h. ausdruckslosen Bewegung
— ein Wunder. Der Zeitraffer bringt in 60 Se-
kunden eine Blüte zum Blühen. So ist man an
die Kunst der Bewegung gewissermaßen von
außen her vom Technischen gekommen.
Soweit es sich im Film überhaupt um eine
Kunst handelt, nicht nur um eine Lunaparkange-
legenheit, sind die oben erwähnten Fragen von
entscheidender Bedeutung.
Ob ein Film ein großes oder ein kleines Publi-
kum finden wird, ist dabei unwichtig, so ent-
scheidend diese Frage für den Film im allgemei-
nen auch sein muß.
Daß die Entwicklung der jungen Filmkunst in
Europa sich in einer „Avantgarde" vollzieht —
abseits von der Industrie, in Rußland aber gerade
die kühnsten Versuche im Spielfilm eine allen
sofort verständliche Form annehmen, liegt an der
Verschiedenheit der gesellschaftlichen Struktur.
Man hat dort keine „Avantgarde", weil man den
Film nicht zur Unterhaltung macht, sondern ihn
zum öffentlichen Leben und für alle Fragen die-
ses Lebens braucht.
Solche Aufgaben ziehen die schöpferischen
Kräfte zu ganz konkreten Arbeiten, in denen sie
ihre Kunst entfalten und anwenden können, her-
an, während die junge Generation Westeuropas
außerhalb der eigentlichen Produktion bleibt.
In unserer uneinheitlichen Gesellschaft stehen
sich Industrie (wirtschaftlich orientiert) und
„Avantgarde" (künstlerisch orientiert) noch fremd
gegenüber. Die Auflösung dieses Gegensatzes
ist weniger eine Frage der künstlerischen als
vielmehr der gesellschaftlichen Entwicklung. Die
Verschmelzung von Spielfilm und Kunstfilm zum
„FILM" geht sehr langsam vor sich, aber sie voll-
zieht sich trotzdem. Hans Richter
Wohnungsbauten in Namslau-Schl.
Architekten Gerhard Schönborn und Hugo Leipziger, Breslau
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