Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929
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https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0138
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Kracauer, Siegfried: Der heutige Film und sein Publikum
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Künstlerische Experimente, die den Film auf meinen nur einzelne Filme gerügt und Symptome
neue Gebiete vortrieben, sind kaum unternommen wie der Profitgeist und das Starwesen getroffen,
worden. Der hauptsächlich in Paris gepflegte Einige mutige Angreifer sind etwas weiter ge-
abstrakte Film ist eine abseitige Züchtung, die gangen und haben wenigstens den oben klar-
hier nicht in Frage steht. Als der einzige wichtige gestellten Zusammenhang zwischen den inter-
Versuch, von der vulgären Produktion abzu- essen der Industrie und der Ideologie ihrer Filme
rücken, ist die interessante Ruttmannsche Film- erwähnt. An eine Analyse des ganzen gegenwär-
symphonie: „Berlin" zu nennen. Ein Werk ohne tigen Zustandes ist noch nicht gedacht worden,
eigentliche Handlung, das die Großstadt aus Die Produzenten selbst suchen sich, dürftig ge-
einer Folge mikroskopischer Einzelzüge erstehen nug, mit dem Hinweis auf den Geschmack eines
lassen möchte. Vermittelt es die Wirklichkeit internationalen Publikums zu rechtfertigen.
Berlins? Es ist wirklichkeitsblind wie irgendein Alle diese Begründungen und Argumente
Spielfilm. Schuld daran trägt seine Haltungs- reichen nicht hin; denn sie erklären keineswegs
losigkeit. Statt den gewaltigen Gegenstand in die geradezu ungeheuerliche Tatsache, daß un-
einer Weise zu durchdringen, die ein echtes Ver- sere Produktion wenn möglich die amerikanische
ständnis für seine gesellschaftliche, Wirtschaft- noch an Substanzlosigkeit übertrifft. Soll die
liehe und politische Struktur verriete, statt ihn Leere unserer Filme, ihre Abschnürung gegen
mit menschlicher Anteilnahme zu beobachten, jede humane Regung, nicht aus einem Substanz-
en überhaupt an einem bestimmten Zipfel anzu- schwund abgeleitet werden, so kann sie ihren
fassen und dann entschlossen aufzurollen, läßt Grund nur in Verstocktheit haben; in jener merk-
Ruttmann Tausende von Details unverbunden würdigen Verstocktheit, die seit dem Ende der
nebeneinander bestehen und schaltet höchstens Inflation in Deutschland herrscht und viele öffent-
frei ersonnene Überleitungen ein, die inhaltsleer liehe Äußerungen bestimmt. Es ist, als sei in
sind. Allenfalls liegt dem Film die Idee zugrunde, jener Zeit, in der die soziale Umschichtung und
daß Berlin die Stadt des Tempos und der Arbeit die Rationalisierung der Betriebe vor sich ging,
sei — eine formale Idee, die erst recht zu keinem das deutsche Leben empfindlich gelähmt wor-
Inhalt führt und vielleicht darum die deutschen den. Fast darf schon von seiner Erkrankung ge-
Kleinbürger in Gesellschaft und Literatur be- sprochen werden . . .
rauscht. Sollen Wege gewiesen werden? Wird ein Re-
Der Niedergang ist zu offenkundig, als daß er zept erwartet? Es gibt kein Rezept. Aufrichtig-
hätte verborgen bleiben können. In der deut- keit, Beobachtungsgabe, Humanität — derglei-
schen Öffentlichkeit hat sich seit kurzem Kritik chen läßt sich nicht lehren. Genug, daß die Situ-
zu melden begonnen. Freilich werden im allge- ation offen dargelegt ist. S. Kracauer
Aus dem Film „Sturm über
Asien"
Regie W. Pudowkin
Meschrabpom - Film
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neue Gebiete vortrieben, sind kaum unternommen wie der Profitgeist und das Starwesen getroffen,
worden. Der hauptsächlich in Paris gepflegte Einige mutige Angreifer sind etwas weiter ge-
abstrakte Film ist eine abseitige Züchtung, die gangen und haben wenigstens den oben klar-
hier nicht in Frage steht. Als der einzige wichtige gestellten Zusammenhang zwischen den inter-
Versuch, von der vulgären Produktion abzu- essen der Industrie und der Ideologie ihrer Filme
rücken, ist die interessante Ruttmannsche Film- erwähnt. An eine Analyse des ganzen gegenwär-
symphonie: „Berlin" zu nennen. Ein Werk ohne tigen Zustandes ist noch nicht gedacht worden,
eigentliche Handlung, das die Großstadt aus Die Produzenten selbst suchen sich, dürftig ge-
einer Folge mikroskopischer Einzelzüge erstehen nug, mit dem Hinweis auf den Geschmack eines
lassen möchte. Vermittelt es die Wirklichkeit internationalen Publikums zu rechtfertigen.
Berlins? Es ist wirklichkeitsblind wie irgendein Alle diese Begründungen und Argumente
Spielfilm. Schuld daran trägt seine Haltungs- reichen nicht hin; denn sie erklären keineswegs
losigkeit. Statt den gewaltigen Gegenstand in die geradezu ungeheuerliche Tatsache, daß un-
einer Weise zu durchdringen, die ein echtes Ver- sere Produktion wenn möglich die amerikanische
ständnis für seine gesellschaftliche, Wirtschaft- noch an Substanzlosigkeit übertrifft. Soll die
liehe und politische Struktur verriete, statt ihn Leere unserer Filme, ihre Abschnürung gegen
mit menschlicher Anteilnahme zu beobachten, jede humane Regung, nicht aus einem Substanz-
en überhaupt an einem bestimmten Zipfel anzu- schwund abgeleitet werden, so kann sie ihren
fassen und dann entschlossen aufzurollen, läßt Grund nur in Verstocktheit haben; in jener merk-
Ruttmann Tausende von Details unverbunden würdigen Verstocktheit, die seit dem Ende der
nebeneinander bestehen und schaltet höchstens Inflation in Deutschland herrscht und viele öffent-
frei ersonnene Überleitungen ein, die inhaltsleer liehe Äußerungen bestimmt. Es ist, als sei in
sind. Allenfalls liegt dem Film die Idee zugrunde, jener Zeit, in der die soziale Umschichtung und
daß Berlin die Stadt des Tempos und der Arbeit die Rationalisierung der Betriebe vor sich ging,
sei — eine formale Idee, die erst recht zu keinem das deutsche Leben empfindlich gelähmt wor-
Inhalt führt und vielleicht darum die deutschen den. Fast darf schon von seiner Erkrankung ge-
Kleinbürger in Gesellschaft und Literatur be- sprochen werden . . .
rauscht. Sollen Wege gewiesen werden? Wird ein Re-
Der Niedergang ist zu offenkundig, als daß er zept erwartet? Es gibt kein Rezept. Aufrichtig-
hätte verborgen bleiben können. In der deut- keit, Beobachtungsgabe, Humanität — derglei-
schen Öffentlichkeit hat sich seit kurzem Kritik chen läßt sich nicht lehren. Genug, daß die Situ-
zu melden begonnen. Freilich werden im allge- ation offen dargelegt ist. S. Kracauer
Aus dem Film „Sturm über
Asien"
Regie W. Pudowkin
Meschrabpom - Film
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