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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929

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Bier, Justus: Zur Reform der Kunstgewerbemuseen
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https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0224

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ist ihre unbedingte Verpflichtung — anzudeuten, wo
fruchtbar, ohne Verkümmerung der Absatzfähigkeit
und Preisgestaltung eine konsequentere oder bes-
sere Durchformung möglich wäre.

Als wesentlich ist auch zu betrachten, daß jene
heute abseits gelassenen sogenannten Modeartikel
in den Kreis der Betrachtung gezogen werden. Es
muß gezeigt werden, wo der Dekor als ein der Form
zugefügtes Akzidens das übersteigerte, aber durch
keine ethische Forderung zu beseitigende Bedürf-
nis nach Wechsel befriedigt, ohne die Form selbst
zu zerstören. Wobei Form als konstruktiv, zweck-
lich bestimmte Gestaltung des Gegenstands ver-
standen wird, nicht als die „geschmückte" Ender-
scheinung, deren Schmuck, w i e er auch immer aus-
fällt, relativ gleichgültig bleibt, wenn eine gute stan-
dardmäßig entwickelte Formunterlage zugrunde
liegt. Scharf abzuscheiden sind dagegen d i e Ob-
jekte, bei denen die Form selbst durch eine deko-
rative Gestaltung zersetzt wurde. Also Wegwei-
sung, den guten Formkern über äußeren Geschmack-
losigkeiten nicht zu verkennen und zugleich Bei-
spiel-Sammlung, wie das dekorative Bedürfnis in
unserer Zeit gemäßen Formen befriedigt werden
kann.

Was haben in diesem Zusammenhang die Hand-
werkserzeugnisse früherer Zeiten zu sagen? Auch
sie müßten davon erlöst werden, nur als Form ge-
wertet zu werden. Auch an ihnen müßten Produk-
tionsbedingungen deutlich gemacht, scharf zwischen
den serienmäßig erzeugten Gebrauchsstücken und
den als Einzelschöpfung zu wertenden, in den Be-
reich freier Kunstübung hinaufreichenden Stücken
unterschieden werden.

Mittel der Darstellung: nicht Isolieren der Gegen-
stände, wie sie nur für das in sich bestehende Kunst-
werk angängig ist, sondern geistige Verknüpfung
durch Textzeilen, Diagramme, statistische Darstel-
lungen, Fotos mit charakteristischen Momenten aus
dem Produktionsprozeß usw. Jede einzelne Industrie
muß in ihrem Umfang, in bezug auf Produktionsstät-
ten und Absatz, Zahl und Größe der Produzenten
und der erzeugten Warenmengen, Größe und Wech-
sel der Musterkollektionen durch diese hinter den
Gegenständen — in geistigem und realem Sinn —
stehenden Aufzeichnungen deutlich gemacht werden.

Ganze an der Formgestaltung beteiligte Industrien
fehlen in den Kunstgewerbemuseen ja einfach des-
halb, weil ihre Produkte sich durch ihren räumlichen
Umfang ihre Vergänglichkeit oder durch ihren Preis

der Aufnahme in den musealen Rahmen entziehen.
Ein Museum, wie das von uns gekennzeichnete, müßte
auch diese Industrien in den Umkreis seiner Dar-
stellung ziehen, mit Modellen, Fotografien usw.
wenigstens andeutend exemplifizieren.

Man wird bemerken, daß unsere Vorschläge sich
dem nähern, was die Industrieausstellungen im Be-
ginn der industriellen Entwicklung im 19. Jahrhun-
dert boten, bevor in seinem letzten Drittel der gei-
stige Zusammenhalt verloren ging und solche Aus-
stellungen unüberblickbar wie so viele Dinge un-
seres Daseins wurden. Bis dahin waren sie große
Rechenschaftsablegungen über den Stand unseres
ganzen industriellen und gewerblichen Lebens. Die-
ser große synthetische Zug könnte auch für unsere
Generation wieder vorbildlich sein. Man wird leicht
verstehen, daß jene ausstellungsmäßige Form, die
wir vorschlagen, erst durch ihre dauernde Etablie-
rung im musealen Rahmen die Möglichkeit erhält,
mehr zu werden, als jene Ausstellungen waren:
nicht nur einen Überblick über die Produktion als
solche zu geben, sondern die formbestimmenden
Tendenzen aufzuzeigen und ihnen zum Durchbruch
zu verhelfen.

Die Organisation im einzelnen ist in dem gezeich-
neten Umfang nur für eine große Anstalt möglich,
während die kleineren sich bewußt beschränken
müssen: auf die Industrien und Gewerke, die dem
Einflußgebiet des betreffenden Museums eigentüm-
lich sind. Selbstverständlich, daß nur in engster
Fühlung mit der Industrie und durch Heranziehung
von Vertrauensleuten in den einzelnen Industrie-
zweigen ein gesunder Ausbau möglich ist. Ent-
scheidend für den neuen Museumstypus ist, daß alle
Darstellung exemplifizierend bleibt, jede Stoffan-
häufung vermieden wird und der ganze Apparat zu-
gleich beweglich allen Wandlungen folgt — kein
Museum für die Ewigkeit, sondern ein Instrument, das
dem geistigen und wirtschaftlichen Leben der Ge-
genwart zu dienen hat.

Wir sehen Form heute auch dort, wo uns früher
der Gegenstand unter dem Begriff des technischen
Erzeugnisses umrissen schien. Wichtig aber, fest-
zustellen, daß die Aufzeigung der Entwicklung
technischen Fortschritts als solchen nicht
die Aufgabe unseres Museums sein kann, sondern
bei aller Ausweitung der zentrale Gesichtspunkt,
der Anteil und Ausmaß aller Gruppen bestimmt, ihr
Beitrag zur Formgebung unseres Daseins ist.

Justus Bier

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