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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929

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Hilberseimer, Ludwig: Entwicklungstendenzen des Städtebaus
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https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0254

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sich jedem Situationswechsel an. Kein größerer
Kontrast als zwischen einer ägyptischen Tempelan-
lage und etwa der Akropolis von Athen. Statt der
absoluten Frontalität des ägyptischen Tempels ist
der griechische Tempel frei plastisch in die Land-
schaft gestellt, von allen Seiten und für jeden zu-
gänglich. Ebenso frei sind die einzelnen Gebäude-
gruppen zueinander geordnet, ohne geometrische
Bindung an ein übergeordnetes System. Alles ist
bei ihnen auf eine menschliche Basis gestellt, im
Gegensatz zu der abstrakten Göttlichkeit der ägyp-
tischen Kultur. Die Griechen waren ein Volk gleich-
berechtigter Bürger. Vergöttlichten die Ägypter ihre
Herrscher, so vermenschlichten die Griechen selbst
ihre Götter. — Die ägyptische Tempelanlage, die
Akropolis in Athen können bereits als städtebau-
liche Anlagen bezeichnet werden, denn in ihnen sind
die Dinge wie in einer Stadt nach einem bestimmten
Plan zueinander geordnet: die ägyptische Tempel-
anlage geometrisch, die Akropolis organisch.

A. E. Brinckmann (Platz und Monument und Stadt-
baukunst), wohl der erste, der die Kunstgeschichte
auf das Gebiet der Stadtbaukunst hingewiesen hat,
betrachtet die organische Stadt, „die gotische
Stadt", wie er sie nennt, als ein zufällig entstande-
nes, langsam gewachsenes Gebilde, dem keinerlei
Formabsicht zugrunde liege. Für ihn beginnt die
Stadtbaukunst erst mit der Herrschaft der Geome-
trie, und er sieht daher auch in der Stadtbaukunst
des Barock ihren Kulminationspunkt überhaupt.
Josef Gantner dagegen (Grundformen der europä-
ischen Stadt) vermeint mit Recht, auch für die Ge-
staltung der organischen Stadt maßgebende ihr zu-
grunde liegende Formenabsichten feststellen zu müs-
sen, deren andere Artung auch andere Maßstäbe er-
fordert. Hätte er das vorliegende Problem auch
soziologisch betrachtet, so wäre auch er zu dem
Ergebnis gekommen, daß beim Städtebau die an-
gelegte geometrische wie die gewachsene, organi-
sche Stadtanlage bestimmte gesellschaftliche Struk-
turen zur Voraussetzung haben. Jedenfalls trifft
das auf ihren Ursprung zu. Überraschend ist aller-
dings, bei den Griechen ebenso wie später im Mit-
telalter, das Nebeneinander von organischen und
geometrischen Stadtanlagen, eine Tatsache, die
sehr viel Verwirrung angerichtet hat. Dieses Neben-
einander beruht aber gleichfalls auf bestimmten
soziologischen Voraussetzungen: bei den griechi-
schen wie auch den mittelalterlichen geometrischen
Städten handelt es sich um Kolonialstädte. Im
Gegensatz zu den nach und nach gewachsenen Hei-
matstädten hat man es also mit Neugründungen zu
tun, deren Anordnung zu allen Zeiten die gleiche
war, wie etwa schon in der ältesten uns bekannten
städtischen Siedlung, der ägyptischen Stadt Kahun,
welche ungefähr 2500 vor Christi zur Unterbringung
der Arbeiter am Bau der Pyramide von lllahun be-
gründet wurde. Der Grund liegt darin, daß das
geometrische Stadtsystem sich für Stadtgründungen
als sehr brauchbar erwies, wenn es galt, schnell
und in primitiver Ordnung ein Stadtterrain abzu-
stecken, das rasch bebaut und übersichtlich sein
sollte. Ein Verfahren, das auch für die Militär-
städte, die aus den Zeltlagern hervorgingen, aus
dem gleichen Grunde angewandt wurde und sich bis
auf den heutigen Tag als überaus zweckmäßig
erwiesen hat.

Ihren Höhepunkt aber erreichte die geometrische
Stadtbaukunst im Barock. Hier hat fürstliche Reprä-
sentationssucht ganze Städte einem repräsentati-
ven Achsensystem untergeordnet. Aber während
dieses Achsensystem damals immerhin einen reprä-
sentativen Sinn hatte und seine soziologische Be-
gründung in den damaligen Machtverhältnissen
fand, sind im XIX. Jahrhundert, wo der geometri-
sche wie der organische Stadtbegriff vollkommen
zum Schema erstarrt sind, die axialen Systeme un-
gefähr so zu bewerten wie der Louis-XVI.-Salon in
der Dreizimmer - Wohnung oder der Diplomaten-
schreibtisch, an dem nie geschrieben wird. Sinn-
lose Dekorationen wie der Stuck des Kurfürsten-
dammes oder die Ritterburgen des Grunewaldes!

Durch völlige Erstarrung des diesen beiden Ge-
staltungsprinzipien zugrunde liegenden Planbegriffs
ging allmählich jeder lebendige Zusammenhang mit
den Aufgaben des Stadtorganismus verloren. Das
zeigt sich ganz besonders heute, wo auf Grund der
technischen Entwicklung die Verkehrsmittel sich völ-
lig verändert und auf Grund der wirtschaftlichen
Entwicklung enorm gesteigert haben. Dadurch wird
der Stadtorganismus vor allem an seinen Verkehrs-
Kulminationspunkten ungeheuer beansprucht. Früher
vergewaltigte die Architektur den Verkehr. Heute
aber ist man mangels klarer städtebaulich-architek-
tonischer Vorstellungen geneigt, dem Verkehr mehr
und mehr die alleinige Herrschaft über den Stadt-
organismus einzuräumen, wodurch die Architektur,
wie die Vorschläge für den Alexanderplatz in Berlin
zeigen, zu einer reinen Kulisse herabsinkt. Daß aber
bei Berücksichtigung aller verkehrstechnischen For-
derungen eine wirkliche architektonische Gestaltung
nicht aufgegeben zu werden braucht, zeigt der Vor-
schlag von Mies van der Rohe. Unabhängig von den
notwendigen Verkehrsbändern, die wesentlich durch
die Forderung der Straßenbahn (das eigentliche Ver-
kehrshindernis von Berlin) bestimmt sind, löst er
die architektonische Aufgabe allein nach baukünst-
lerischen Gesichtspunkten durch Einzelbauten.

Wie wenig man sich über die Leistungsaufgabe
eines neuen Stadtorganismus im klaren ist, zeigt
auch der mit dem 1. Preis ausgezeichnete Vorschlag
für die Bebauung der Straßenzüge und Durchbrüche
östlich des Alexanderplatzes. Auch hier nur neue
Fassaden ohne eine Änderung des Grundrisses.
Wenn man schon ein ganzes Viertel niederlegen und
neu bebauen will, was doch bei der vorgesehenen
zehngeschossigen Bebauung der Fall ist, würde es
sich durchaus verlohnen, dieses Problem nicht von
der Fassade, sondern vor allem vom Grundriß aus
zu lösen. Vor allem durch Vermeidung umschlosse-
ner Höfe, was bei einer anderen Verteilung der Bau-
massen durchaus möglich ist. Mit der neuen Fas-
sade ist das Neue keineswegs verbunden. Sie ist
eine viel zu belanglose Angelegenheit, um in diesem
Maße wichtig genommen zu werden. Wenn die
moderne Architektur etwas erreicht hat, so doch
dieses: daß sie die Mängel des Akademismus aufge-
deckt hat, dem die Fassade immer wichtiger als der
zu gliedernde Organismus war. Aber dieser Akade-
mismus ist, wie diese Entwürfe zeigen, keineswegs
nur an die Apparatur des Historizismus gebunden,
sondern er kann sich auch sehr „moderner" Mittel
bedienen, allerdings ohne zu einem anderen Ergeb-
nis wie bisher zu kommen.

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