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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929

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Hartlaub, Gustav Friedrich: Ethos der neuen Baukunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0330

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besondere ihr magisches Kernstück: das Wand-
lungsgeheimnis der Hostie), ihren Wunderglau-
ben, ihre Bilderverehrung, die Macht und Gna-
denmittel ihrer Priesterschaft, schließlich ihre
ganze hierarchische Gliederung — also alles,
was kritischem, „protestantischem" Bewußtsein
als äußerlich, materiell, als „abergläubisch" er-
scheinen mag: und man wird alles entfernt
haben, was gerade auch der christlichen Kunst
der Blütezeit unmittelbar zur Entfaltung verhol-
fen hat. —

Je mehr die katholische Kirche diesen ihren
„Aberglauben" sublimierte, zur bloßen Metapher
herabdrückte, je „protestantischer" und kritisch-
vorsichtiger auch sie wurde, um so stärker
ging ihre naive bildende Kraft zurück. „Das
Buch wird das Gebäude töten" — sagt Viktor
Hugo in Notre Dame de Paris. In der Tat: als
man begann, Bücher zu drucken, das Geheimnis
der Bibel zu demokratisieren, da war es mit der
Vorherrschaft, mit der stilschöpferischen Dikta-
tur der sakralen Baukunst vorüber. Die Ein-
heit der Künste lockerte sich auf und in der Bau-
kunst traten mit der antikisierenden Renaissance
an die Stelle der primären „organischen" Stile
(wie sie Jakob Burckhardt genannt hat), die „ab-
geleiteten", die nachahmenden; eine Entwick-
lung, die erst heute — in der großen Zeitwende
zum technisch-kollektiven Weltalter — ihrem
Ende zuschreitet.

II.

Auf der jüngsten Tagung des Deutschen
Werkbundes in München setzte sich W. Pinder
in seiner Erwiderung auf das kultur-kritische Re-
ferat Alfred Webers mit den Aussichten und
Möglichkeiten der neuen Baukunst auseinander,
die wir kurz die „technoide" nennen wollen. Als
Kunst- und Kulturhistoriker weiß er tief um die
Bedingtheit der alten stilgebenden Baukunst
durch das Religiöse. Werden wir wieder eine
sakrale Architektur haben wie im Mittelalter, wird
wiederum ein religiöser „Glaube" sein können,
der zu „bauen" vermag? — so fragen viele mit
ihm. Nur dann, wenn religiöse Monumentalkunst
möglich sein wird, werden wir wieder eine große
dominierende Architektur, einen Stil besitzen.
Wenn nicht — wie es gerade nach Alfred Webers
Äußerungen den Anschein hatte — so wird die
Baukunst überhaupt nicht wieder die Bedeutung
gewinnen, die ihr die Verfechter der neuen
technisch-architektonischen Gemeinschaftsform
prophezeien!

Uns scheint, daß solche Meinung in nicht
berechtigter Weise aus den Erfahrungen der
Vergangenheit auf die Zukunft schließt. Ist

denn eine Monumentalarchitektur des weltlichen,
diesseitigen Machtausdrucks unmöglich? Schon
seit den Tagen der Renaissance war die Stildik-
tatur der geistlichen Baukunst zweifelhaft ge-
worden: Palast und Schloß gaben mehr den Ton
an als die Kirche; Klöster und Kirchen selbst
schienen mehr wie Paläste, im Rokoko bisweilen
gar wie Tanzsäle Gottes. Wie dem aber auch
sei: heute und auf absehbare Zeit ist es ganz
gewiß nicht die Kirche, ebensowenig freilich der
Fürstenpalast, ist es weder das Religiöse noch
das Dynastische, sondern allein das Kollektiv-
Wirtschaftliche, was als Warenhaus, Büroge-
bäude, Fabrik, Verkehrsarchitektur, Siedlung,
Massenwohnhaus usw. die höchsten Energien
des Baukünstlers aufruft, der hier freilich immer
weniger individuell, immer mehr in Form des un-
persönlichen Baubüros und im engsten Bunde
mit dem Techniker auftritt. Gerade in dem kol-
lektiv kapitalistischen Amerika, hier und da auch
in dem ebenso kollektiven staatssozialistischem
Bereich Sowjet-Rußlands hat diese Gesamtform
neuer technoider Baukunst es zu charakteristi-
schen Wirkungen gebracht. —

Eine fotografische Aufnahme liegt vor uns
aus Pittsburg, einer der zahlreichen gleichförmi-
gen amerikanischen Großstädte. Zwischen unge-
heuren Wolkenkratzern, ungezählten Stock-
werkstürmen befindet sich ungefähr in Viertel-
höhe zu den Füßen der Giganten eine im übri-
gen voll ausgewachsene Kirche, die sich als nor-
male Kopie irgendeines bekannten gotischen Kir-
chenbaues darstellt. Denken wir diesem Bilde
gegenüber etwa an den Anblick des mittelalter-
lichen Ulm, wie es sich heute noch darstellt,
mit seinem riesenhaften überragenden Dom und
den kleinwinzigen Bürgerhäusern zu seinen
Füßen, so haben wir in solchem Vergleich einen
wahrhaft symbolischen Gegensatz, ein schöpfe-
risches Sinnbild für die Zeitwende, deren Zeuge
wir sein dürfen. Die neugotische Kirche von
Pittsburg wirkt mit ihren nachgeahmten Altfor-
men wie ein Fossil, wie eine sonderbare
Attrappe, eine verlogene Sentimentalität des
(pseudocalvinistischen) Geschäftschristentums
in Amerika. Dagegen wirken die mächtigen
Zweckkonstruktionen rund umher recht orga-
nisch, lebendig und auch künstlerisch wohl ent-
wicklungsfähig, so roh und unternehmerhaft sie
dastehen und so sehr man auch vorerst bei ihnen
nur von Uniformität sprechen kann, nicht schon
von Stil. Aber wer sagt uns, daß diese Baukunst
mit ihrem eigenen Lebensgefühl, mit ihren ganz
neuartigen Daseinsgesetzen nicht „schön" wer-
den kann auch im zeitlosen Sinn? Wer möchte
beweisen, daß sie nicht so gebieterisch alle

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