Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929
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https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0716
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Reitz, Adolf: Das Echo des Werkbund-Programms für die Internationale Ausstellung "Die neue Zeit"
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kranken an dem Geist und den Geistern, die, in ro- leitende Idee „Die Neue Zeit" leidenschaftlich er-
mantischer Sentimentalität der Vergangenheit ver- faßt und mit dem ganzen Optimismus eines Men-
haftet, die Gegenwart nicht sehen, schon weil sie sehen erfüllt, der aus der Gegenwart heraus für die
sie nicht sehen wollen. Um so wichtiger wird die Zukunft lebt, Dr S h
Manifestation in Köln sein; sie wird ihren Zweck r" C wa
erfüllen, wenn sie beiträgt zu der Erkenntnis, daß
wir unsere Vergangenheit als historisches Faktum Ähnlich klingt das Echo aus dem Ausland (in der
zu nehmen, mit Einsatz aller Kräfte aber für die Zu- Presse wie in den Briefen): Österreich, Schweiz,
kunft zu arbeiten und zu kämpfen haben. Frankreich, England, Holland, Tschechoslowakei,
P. Westheim Rußland, Amerika; vielfach samt positiven Anregun-
gen und aktiven Zusammenarbeitserklärungen und
Europa-Dienst: Das Programm, das Ernst Jäckh insgesamt mit freudiger Zustimmung, die aus Paris
für die Internationale Werkbund-Ausstellung „Die folgende Charakteristik bringt: „Le document est le
Neue Zeit" Köln 1932 geschaffen hat, bezeichnet an premier du genre et restera encore Iongtemps un
Fülle und Tiefe der gedrängten Gedanken, an Uber- modele tant pour le developpement philosophique
blick und Weitblick, an lebendigem Gegenwartsge- de la profonde idee initiatrice que pour I'expose
fühl und insbesondere an zusammenfassender geisti- systematique de toute la theorie des details concer-
ger Kraft einen Höhepunkt in der ideellen Entwick- nant I'organisation administrative et la realisation
lung des Ausstellungswesens. Insbesondere ist die materielle de la grande entreprise."
ZUM PROGRAMM
Walther Schmidt sagt zu Anfang seiner Aus-
führungen, daß das „Programm ein lückenlos ge-
schlossenes geistiges System sei, aus dem sich kein
Baustein reißen läßt ohne das Ganze zu verletzen"
und kommt doch zu der Schlußfolgerung und dem
Wunsche, „daß unter Preisgabe des zyklischen Auf-
baues die Gruppen 1, 6 und 7 ausfallen mögen", das
heißt, er gibt das lückenlos Geschlossene, „die
hohe, fast künstlerische Einheit" auf.
Ich glaube, seinen Bedenken liegt in erster Linie
die Befangenheit durch seitherige Ausstellungsfor-
men zugrunde. Uns'ere seitherigen Ausstellungen
waren zum größten Teil Schaustellungen, der Gegen-
stand paradierte. Die Ausstellung „Die Neue Zeit"
nimmt wohl auch den Gegenstand, aber sie will die
Idee, das Geistige aus dem Gegenstand schöpfen.
Sie bringt den Gegenstand also in der Form, in dem
Zusammenhang in der Ausstellung zu Gesicht, daß
er sein geistiges Substrat zeigt, — daß er seinen
starken geistigen Zusammenhang zeigt. Wenn er
das zeigen kann, wenn Materie in jeder Form Geist
ist, dann braucht die Ausstellung vor den Abteilun-
gen Weltbild, Gestaltung des Staates, Ordnung der
Weft nicht zurückzuschrecken, sondern diese Abtei-
lungen werden als umfassendes Band, geradezu als
Wurzel- und Kronenwerk benötigt. Nicht das zeit-
liche Verhältnis der zweiten zur ersten Gruppe und
den nachfolgenden Gruppen ist bedeutungsvoll.
Auch nicht um ein bestimmtes Weltbild handelt es
sich, sondern um Stücke zu einem Weltbild. Es soll
ja nicht für eine bestimmte Weltanschauung Propa-
ganda gemacht werden. Die religiösen, weltanschau-
lichen Folgerungen muß der Beschauer selbst
ziehen, der eine so, der andere so. Für diese Fälle
schweigt die Ausstellung. In dem Teile „Weltbild"
wird dfe künstlerische Hand die Atmosphäre schaf-
fen, um die Ahnung urformender Kraft, unter der wir
stehen, zu geben. Die neue Zeit will nicht bloß
Gegenwart sein, sie ist Zukunft und Vergangenheit,
sie ist das fließende Etwas, in dem wir rollen. Sie
ist nicht Zeit in herkömmlichem Sinne, sie ist Kraft.
Und in diesem Sinne ist sie tatsächlich für alle
Schichtungen der Ausstellung homogen.
Zweifellos, das Weltbild ist „viel reicher als es
die Entwicklung des Programms andeutet". Und es
ist die größte Aufgabe der Ausstellung, den Eindruck
dieser Größe selbst hervorzurufen, das Unsagbare
ahnen zu lassen. Man wird eine Ausstellung „Die
Neue Zeit" nicht ohne den Geist eines Hölderlin
wagen dürfen, Hölderlin ist nicht Vergangenheit, ist
nicht Zeit, sondern ist unsterbliche Kraft, ebenbürtig
allem Schöpferischen der Technik, da aus der glei-
chen Quelle fließend. Das will ja eben die Ausstel-
lung, das ist ihre große Mission am Volk, das Gei-
stige, sagen wir das Religiöse im werktätigen Sein
zu betonen, auszudrücken. Die Ausstellung kann
so eine gewaltige Kirche sein, Materie und formen-
der Geist die Prediger. Würde man dieses „Welt-
bild" aus der Ausstellung wegnehmen, so würde sie
in sich zusammenstürzen. Daß das Weltbild „see-
lisch zu dürftig und zu einseitig intellektuell aus-
sehen wird" befürchte ich keineswegs. Es ist Sache
der hohen Auffassung, Sache der ausstellungslei-
tenden Persönlichkeiten, diese Gefahr von Beginn
auszuschließen. Zweifellos „die tiefsten schöpferi-
schen Kräfte, die unser Weltbild formen, entziehen
sich vollkommen der intellektuellen Erkenntnis", wir
können sie nicht mit Namen benennen, — aber er-
kennen und fühlen können wir sie. Und nur das will
die Ausstellung, muß aber auch die Ausstellung.
Die Ausführungen von Walther Schmidt zu 6 und 7
bedürfen auch einer Entgegnung. Walther Schmidt
schreibt: „Die Gestaltung des Staates ist Gegen-
stand des heißen politischen Kampfes, in dessen
Hintergrund Glaube gegen Glaube steht." Die Aus-
stellung wird sicherlich keine Tagespolitik treiben.
Es gibt aber eine Politik der Zeit. Es sind auch hier
formende, treibende Kräfte am Werk, die über jeder
Parteipolitik und jeder Politik des Tages stehen.
Parteipolitik ist nur das Knirschen der Räder, nicht
das Rad selbst. Unparteiisch diese tieferen Wirk-
samkeiten zu zeigen, sachlich das organische Kon-
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mantischer Sentimentalität der Vergangenheit ver- faßt und mit dem ganzen Optimismus eines Men-
haftet, die Gegenwart nicht sehen, schon weil sie sehen erfüllt, der aus der Gegenwart heraus für die
sie nicht sehen wollen. Um so wichtiger wird die Zukunft lebt, Dr S h
Manifestation in Köln sein; sie wird ihren Zweck r" C wa
erfüllen, wenn sie beiträgt zu der Erkenntnis, daß
wir unsere Vergangenheit als historisches Faktum Ähnlich klingt das Echo aus dem Ausland (in der
zu nehmen, mit Einsatz aller Kräfte aber für die Zu- Presse wie in den Briefen): Österreich, Schweiz,
kunft zu arbeiten und zu kämpfen haben. Frankreich, England, Holland, Tschechoslowakei,
P. Westheim Rußland, Amerika; vielfach samt positiven Anregun-
gen und aktiven Zusammenarbeitserklärungen und
Europa-Dienst: Das Programm, das Ernst Jäckh insgesamt mit freudiger Zustimmung, die aus Paris
für die Internationale Werkbund-Ausstellung „Die folgende Charakteristik bringt: „Le document est le
Neue Zeit" Köln 1932 geschaffen hat, bezeichnet an premier du genre et restera encore Iongtemps un
Fülle und Tiefe der gedrängten Gedanken, an Uber- modele tant pour le developpement philosophique
blick und Weitblick, an lebendigem Gegenwartsge- de la profonde idee initiatrice que pour I'expose
fühl und insbesondere an zusammenfassender geisti- systematique de toute la theorie des details concer-
ger Kraft einen Höhepunkt in der ideellen Entwick- nant I'organisation administrative et la realisation
lung des Ausstellungswesens. Insbesondere ist die materielle de la grande entreprise."
ZUM PROGRAMM
Walther Schmidt sagt zu Anfang seiner Aus-
führungen, daß das „Programm ein lückenlos ge-
schlossenes geistiges System sei, aus dem sich kein
Baustein reißen läßt ohne das Ganze zu verletzen"
und kommt doch zu der Schlußfolgerung und dem
Wunsche, „daß unter Preisgabe des zyklischen Auf-
baues die Gruppen 1, 6 und 7 ausfallen mögen", das
heißt, er gibt das lückenlos Geschlossene, „die
hohe, fast künstlerische Einheit" auf.
Ich glaube, seinen Bedenken liegt in erster Linie
die Befangenheit durch seitherige Ausstellungsfor-
men zugrunde. Uns'ere seitherigen Ausstellungen
waren zum größten Teil Schaustellungen, der Gegen-
stand paradierte. Die Ausstellung „Die Neue Zeit"
nimmt wohl auch den Gegenstand, aber sie will die
Idee, das Geistige aus dem Gegenstand schöpfen.
Sie bringt den Gegenstand also in der Form, in dem
Zusammenhang in der Ausstellung zu Gesicht, daß
er sein geistiges Substrat zeigt, — daß er seinen
starken geistigen Zusammenhang zeigt. Wenn er
das zeigen kann, wenn Materie in jeder Form Geist
ist, dann braucht die Ausstellung vor den Abteilun-
gen Weltbild, Gestaltung des Staates, Ordnung der
Weft nicht zurückzuschrecken, sondern diese Abtei-
lungen werden als umfassendes Band, geradezu als
Wurzel- und Kronenwerk benötigt. Nicht das zeit-
liche Verhältnis der zweiten zur ersten Gruppe und
den nachfolgenden Gruppen ist bedeutungsvoll.
Auch nicht um ein bestimmtes Weltbild handelt es
sich, sondern um Stücke zu einem Weltbild. Es soll
ja nicht für eine bestimmte Weltanschauung Propa-
ganda gemacht werden. Die religiösen, weltanschau-
lichen Folgerungen muß der Beschauer selbst
ziehen, der eine so, der andere so. Für diese Fälle
schweigt die Ausstellung. In dem Teile „Weltbild"
wird dfe künstlerische Hand die Atmosphäre schaf-
fen, um die Ahnung urformender Kraft, unter der wir
stehen, zu geben. Die neue Zeit will nicht bloß
Gegenwart sein, sie ist Zukunft und Vergangenheit,
sie ist das fließende Etwas, in dem wir rollen. Sie
ist nicht Zeit in herkömmlichem Sinne, sie ist Kraft.
Und in diesem Sinne ist sie tatsächlich für alle
Schichtungen der Ausstellung homogen.
Zweifellos, das Weltbild ist „viel reicher als es
die Entwicklung des Programms andeutet". Und es
ist die größte Aufgabe der Ausstellung, den Eindruck
dieser Größe selbst hervorzurufen, das Unsagbare
ahnen zu lassen. Man wird eine Ausstellung „Die
Neue Zeit" nicht ohne den Geist eines Hölderlin
wagen dürfen, Hölderlin ist nicht Vergangenheit, ist
nicht Zeit, sondern ist unsterbliche Kraft, ebenbürtig
allem Schöpferischen der Technik, da aus der glei-
chen Quelle fließend. Das will ja eben die Ausstel-
lung, das ist ihre große Mission am Volk, das Gei-
stige, sagen wir das Religiöse im werktätigen Sein
zu betonen, auszudrücken. Die Ausstellung kann
so eine gewaltige Kirche sein, Materie und formen-
der Geist die Prediger. Würde man dieses „Welt-
bild" aus der Ausstellung wegnehmen, so würde sie
in sich zusammenstürzen. Daß das Weltbild „see-
lisch zu dürftig und zu einseitig intellektuell aus-
sehen wird" befürchte ich keineswegs. Es ist Sache
der hohen Auffassung, Sache der ausstellungslei-
tenden Persönlichkeiten, diese Gefahr von Beginn
auszuschließen. Zweifellos „die tiefsten schöpferi-
schen Kräfte, die unser Weltbild formen, entziehen
sich vollkommen der intellektuellen Erkenntnis", wir
können sie nicht mit Namen benennen, — aber er-
kennen und fühlen können wir sie. Und nur das will
die Ausstellung, muß aber auch die Ausstellung.
Die Ausführungen von Walther Schmidt zu 6 und 7
bedürfen auch einer Entgegnung. Walther Schmidt
schreibt: „Die Gestaltung des Staates ist Gegen-
stand des heißen politischen Kampfes, in dessen
Hintergrund Glaube gegen Glaube steht." Die Aus-
stellung wird sicherlich keine Tagespolitik treiben.
Es gibt aber eine Politik der Zeit. Es sind auch hier
formende, treibende Kräfte am Werk, die über jeder
Parteipolitik und jeder Politik des Tages stehen.
Parteipolitik ist nur das Knirschen der Räder, nicht
das Rad selbst. Unparteiisch diese tieferen Wirk-
samkeiten zu zeigen, sachlich das organische Kon-
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