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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929

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Villon, Pierre: Eisenbahnwaggons, Flugzeuge und Automobile
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https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0743

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Kutsche, herkommend, getrieben von einigen prak-
tischen Notwendigkeiten (bequemes Sitzen, Schutz
vor Regen, Kälte und Wärme, Stabilität gegen Er-
schütterung) die Konstruktion und Form des Wagen-
aufbaus langsam nach Modelaune und künstleri-
schem Geschmack entwickelt. Die ästhetischen
Verbesserungen der Form erfand aber nicht er, son-
dern die Ingenieure, die Rennwagen konstruierten.
Der Sport-Torpedo ist ein Kind des Rennwagens.
Der geschlossene Wagen aber ist lange ein Kind
der Chaise oder des Landauers geblieben. Vor
etwa vier Jahren sahen wir in Europa die ersten
ganzmetallnen amerikanischen Karosserien. Das
war ein neuer technisch - formaler Schritt vor-
wärts. Hinterwand und Seitenwände stießen nicht
mehr eckig, sondern rund zusammen, die Trennung
zwischen „Wand" und „Dach" war verschwunden.
Die Stanz- und Preßtechnik verlangte diese Form*),
da durch sie das biegsame Blech starre Konstruk-
tion wurde. Die Technik des Stanzens, des Pres-
sens und autogenen Schweißens von Eisenblech hat
auch die neue Form der Waggons der Nordbahnen
ins Leben gerufen. Wenn kürzlich behauptet wurde,
diese Wagen seien typisch romanisch, weil sie run-
der sind als die deutschen, so zeugt dies von einer
vollkommenen Verkennung der Kräfte, welche bei
der Bildung der verschiedenen technischen Formen
am Werke sind. Nicht die Nationalität oder Rasse
eines Ingenieurs bedingt die Gestalt der Maschine,
die er baut, sondern seine Auffassung des techni-
schen Problems, die Werkzeuge und die Materialien,
die ihm zur Ausführung zur Verfügung stehen. So-
lange das Problem in den verschiedenen Ländern
verschieden ist, solange ist auch die Lösung ver-
schieden, sobald aber die gleichen Bedingungen zu
erfüllen sind, sehen sich auch die Lösungen zum
Verwechseln ähnlich. Die oben besprochene ameri-
kanische Konstruktion der Metallkarosserien ist
innerhalb von kaum zwei Jahren von allen großen
europäischen Automobilfabrikanten übernommen
worden, nicht weil sie romanischer oder germani-
scher ist, sondern weil sie billiger und besser ist.

Die Konstruktion der Nordbahnwaggons wird sich
durchsetzen, wenn sie sich bewährt, da sie billiger
ist. Sie wird es nicht so schnell wie eine neue
Lösung im Automobilbau, weil in den Bahnverwaltun-
gen in Europa alte Herren sitzen, die sehr vorsichtig
und sehr ängstlich sind und weil solch komplizierten
Verwaltungen meist der Mann fehlt, der das Recht
oder den Mut hat, die Verantwortung für eine Neue-
rung zu übernehmen.

Erstaunlich ist bei diesen Waggons das Fehlen
jeder falschen architektonisch-dekorativen Gliede-
rung, die Reinheit der technisch-organischen Form
zumindest im Äußeren. Bei den Automobilen hat die
Gewohnheit oder die Mode oder die Angst, dem
Geschmack des Käufers nicht zu entsprechen, es
fertiggebracht, daß man unnötigerweise auch bei
den Metallwagen durch einen Wulst, der bald breit
bald schmal, manchmal auch doppelt ist, das Wagen-
gehäuse unterhalb der Fenster in zwei Teile teilt.
Das alte Lederverdeck wird dadurch verewigt. Ein
Karossier, den man nach dem Grund dieses schön

*) Dieselbe Form hatte vorher aus anderen Gründen Weymann für
seine lederbezogenen Wagen verwendet. Vielleicht hat sogar seine
Konstruktion durch ihre Form die Idee der Metallkarosserie wach-
gerufen. Gekommen wäre sie natürlich doch, denn sie ist die logische
Anwendung einer bestehenden Fabrikationsmethode.

bemalten Wulstes fragt, wird nicht verfehlen zu ant-
worten, daß er dem Wagen die „Linie", den „Cha-
rakter", die „Rasse" gäbe.

Voisin zeigte in der diesjährigen Automobilaus-
stellung einige Wagen, die vollkommen frei von
jedem Wulst, jedem aufgemalten Streifen sind. Und
doch fehlt diesen Wagen weder die „Linie" noch
der „Charakter" noch die „Rasse".

Im übrigen zeigte die Ausstellung formal wenig
Neues. Der Luxussportwagen von Chenard-Walker
ist der einzige französische Versuch, zur luftwider-
standsfreien Form zu kommen. Doch wirkt auch die-
ser Versuch noch zu künstlich-formalistisch, zu sehr
ästhetisch gewollt, um überzeugend zu sein. Spe-
zielle Autorennstraßen, welche uns die Zukunft brin-
gen wird, vielleicht neue Energiequellen, die den
Benzinmotor überwinden werden und große Fahr-
geschwindigkeiten möglich machen, werden wohl
erst den Impuls für eine vollkommene Erneuerung
der Automobile im Sinne der Stromlinienform geben.
Ohne auf ein Bedürfnis aufzubauen, kann man nichts
Dauerndes schaffen.

Aussichtsreich scheint mir der von der Gesell-
schaft TRACTA herausgebrachte Wagen mit Vor-
derradkuppelung. Seine technischen Vorteile sind
gute Stabilität in den Kurven, sicheres Lenken und
leichte Zugänglichkeit: des Mechanismus. Sein An-
triebsprinzip ermöglicht eine sehr tiefe Lage des
Wagens und verändert infolgedessen auch seine
Form sehr günstig. Aus solchen Verbesserungen der
technischen Lösungen können leicht, auch ohne
ästhetische Absicht, Verbesserungen der Gestalt
hervorgehen. Roger Ginsburger, Paris

Hinterteil des Voisin 2/3 Plätze
 
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