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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929

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Debschitz, Wilhelm von: Zur Deutung der Formen
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https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0748

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durch Menschenhand entstanden sind, als Kunst-
werke und Nicht-Kunstwerke gegeneinander abzu-
grenzen. Je nachdem werden wir solches Abgren-
zen als sinnvolles Handeln mehr oder weniger hoch
einschätzen.

In der Tat genügt es, wenn wir zu den Dingen
lebendige Beziehungen haben. Es genügt, um unse-
rem Leben allen Reichtum zu sichern, den es aus
dieser Richtung empfangen kann. Und vor allem;
es genügt, um uns die Fähigkeit zu geben, das Leben
in den Dingen zu verdeutlichen oder lebendige Dinge
zu schaffen, wenn wir Künstler sind oder sein
wollen. Ein Künstler, der dieses Leben der Dinge
nicht kennt, ist undenkbar.

Auch hier würde es sich wieder um die denkbar
selbstverständlichste Sache handeln, wenn nicht die
allmählich von Generation zu Generation wachsende
menschliche Bewußtheit, die Fähigkeit zur rationalen
Abstraktion uns von den Dingen distanziert, so weit
entfernt hätte, daß Kunstkennerschaft sich als eine
eigene geistige Disziplin entwickeln konnte und
mußte. — Wir können uns dieser Bewußtheit nicht
entschlagen, es sei denn, daß wir uns selbst ver-
lieren wollten. Wir müssen uns ihrer bedienen, um
dem durch sie selbst geschaffenen Bedürfnis nach
Selbsterkenntnis zu genügen.

Das rationale Bewußtsein betätigt sich in der
Funktion des Denkens, es ist daher geneigt, den Er-
scheinungen, die es deuten will, einen logischen Sinn
unterzuschieben, z. B. wenn es die Formen eines
modernen Autos als Ausdruck der für das Auto ge-
forderten Schnelligkeit, wenn es den Sinn der For-
men eines gotischen Domes in erster Linie nach
ihrem Funktionswert beurteilen wollte. Wie viel oder
wenig an solcher Deutung auch richtig sein mag, so
sagt sie über den Wert des gedeuteten Gegenstan-
des für das in uns angelegte Bedürfnis zu wenig aus,
sie ist zu eng.

In Wahrheit erleben wir die Dinge nicht nur den-
kend, sondern in allen Funktionen der bewußten und
unbewußten Seele. Wir erleben sie in einer alogi-
schen Einheit. Dieses Alogische ist das spezielle
Wesen des künstlerischen Erlebnisses auch dann,
wenn es sich nicht um Gegenstände der anerkannt
„freien" Künste, sondern um die in unserem Leben
als Geräte dienenden Dinge handelt. Es scheint mir
an der Zeit, diese Dinge zwar nicht von ihrer Ver-
pflichtung eines zweckmäßigen praktischen Funk-
tionierens, wohl aber aus der Enge der nur-logischen
Beurteilung zu entbinden. Eine Gefahr, daß wir sie
dadurch wieder zum Opfer eines willkürlichen, wil-
den Schmückens machen, besteht so lange nicht, wie
wir an dem ihnen jeweils eigenen Leben wirklich
partizipieren. Ein Gebiet, welches sich noch stets
allen logischen Insinuationen erwehrt hat, ist die
Kleidermode der Damen. Nach dem Erfolg zu urtei-
len, geschah dies nicht zum Nachteil der Mode. Das
Denken hat sich an ihr dadurch zu rächen versucht,
daß es die Mode als ein seiner nicht würdiges
Objekt verächtlich machte. „Aber ich fürchte, diese
Verachtung, die sich darauf gründet, daß alle ihre
Äußerungen für oberflächlich und leichtfertig erklärt
werden, verrät nur die Oberflächlichkeit des Ver-
ächters." (Ortega y Gasset.)

Indessen hat sich ein wahrhaft tiefes und ernstes
Denken der uns auferlegten rationalen Bewußtheit in
einem besseren Sinne bedient, indem es, gestützt

auf eine tiefgründige empirische Forschung, das Un-
bewußte unseres Seelenlebens ins Licht unseres
wachen Bewußtseins gerückt hat. Es ist daran, uns
aus den Klammern eingeengter Dämonie zu befreien.
Seitdem die Menschheit durch die innere Erschütte-
rung des Kriegserlebnisses in der Tiefe zur Emp-
fänglichkeit aufriß, steht sie im fruchtbaren Einfluß
auch dieses Denkens, dieser Forschung, befindet sie
sich in einer erfolgreichen psychoanalytischen Kur.
(Ich empfehle zur Orientierung in erster Linie die
Lektüre der C. G. Jungschen Schriften.) Die in der
Hypertrophie des Denkens mehr oder minder ver-
drängten Funktionen der Seele wurden durch Be-
wußtmachung in ihrem funktionellen Wert erhöht. So
erwachten wir, die wir als Denkende Greise sind, mit
unserem Fühlen, Empfinden und Intuieren wie aus
einem schweren Traum zu einer neuen werdenden
oder vollendeten Jugend. Die Lebensenergie dieser
Jugend wird für die Einbeziehung auch des Denkens
in die einheitliche Jugendlichkeit der neuentstehen-
den Welt sorgen. Fast scheint es, daß uns wieder
die aus der Gesamtheit des Lebens abgeleiteten
Maßstäbe zur Hand gegeben werden sollen. Gibt
es doch in der Gegenwart und jüngsten Vergangen-
heit genug Beispiele eines menschlichen Vermögens
und Erkennens, das unser Begreifen übersteigt, dem
sich das Symbolische in den Dingen wieder
erschließt.

Da sich kein Mensch in all seinem Verhalten der
Innen- und Außenwelt gegenüber den ihm in seiner
Seele gegebenen Vorbedingungen entwinden kann,
mußte die Aufhellung dieser Bedingungen von unge-
heurer Bedeutung sein. Aufgehellt wurde der
Seelenraum, in welchem das Kunstwerk sein eigent-
liches Leben hat, aus dem der Künstler seine tief-
sten Impulse empfängt. Tatsächlich gibt es heute
kein Gebiet des menschlichen Geisteslebens, in dem
nicht mindestens das Aufgehen eines neuen Lichtes
zu dämmern beginnt. Wie wäre sonst auch die Pla-
nung einer Ausstellung „Die Neue Zeit" möglich.

Die Erzeugnisse der neuen Zeit lassen sich nicht
nach ästhetisch-kritischen Methoden der Vergangen-
heit für uns neue Menschen gültig beurteilen. Es ist
erforderlich, unsere Zeit in der Entwicklung der Zei-
ten auch psychologisch zu placieren, wenn wir in
ihren Erscheinungen den Wert für die Gegenwart,
für das zwischen gestern und morgen Liegende er-
kennen wollen. Wir müssen auf das psychologische
Alter einer Zeit Bezug nehmen, wenn wir sie aus
ihr selbst zu erklären wünschen. Wenn wir aber
schon unsere Zeit als „neu" empfinden, so werden
wir sie auch als psychologisch jung auffassen, in
jedem einzelnen Fall, in jeder einzelnen Form den
Charakter der Jugendlichkeit als den einzig ange-
messenen anerkennen müssen. Wir haben das Auf-
kommen unserer Zeit wie die Geburt eines Kindes in
schmerzlichen Wehen erlebt. Wir werden ihre innere
Konstruktion, die Auswirkung ihrer Organik und ihre
schließliche Erscheinung aus der Natur eines Kindes
zu deuten haben, wobei jeder einzelnen Funktion
dieses jungen Leibes, dieser jungen Seele nur immer
im Bilde seiner Gesamtheit Gerechtigkeit geschehen
könnte, gleichviel, ob uns diese Gesamtheit schon
als vollendete Tatsache in der Gegenwart oder als
Utopie in der Zukunft gegeben ist. Die Menschen
waren immer nicht nur Subjekte, sondern vielleicht
mehr noch Objekte einer Kultur, und so werden wir,

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