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Die Kunst-Halle — 9.1904

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Nummer 10
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Brieger, Lothar: E.M. Lilien
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Die Kunst-Halle.

Nr. w


Kunst, die in jener armen Gegend ein Begriff ist, nicht
mehr. Alle Theorien von Vererbung zerfallen hier zu
nichts, wo aus Kulturlosem höchste Kultur hervorgeht.
Ihr Leben lang haben die Eltern an der unergiebigen
Scholle ihrer zweiten Heimath ^klebt. Nun zieht es
den Jungen in die Welt hinaus, er verlangt nach dem
bunten, vielgestaltigen Kulturleben, dessen Abglanz seinen
Träumen Farbe verleiht. Dreimal verläßt er die
Heimath und sucht die Kultur zu erkämpfen, und drei-
mal wirft ihn die woge des Lebens unerbittlich nach
Drohobycz zurück. Aber die junge Kraft ist durch alle
Bitterkeiten nicht zu brechen. Ein vierter und letzter
Versuch — und er gelingt! Der junge Künstler lebt
nun in München — nicht eben glänzend, aber er lebt
doch seiner Kunst. Langsam führt der weg nunmehr
aufwärts. Nicht ohne harte Kämpfe. Und schließlich
steht Lilien am Ziele. Der Drechslerssohn aus Drohobycz
ist ein Künstler von Bedeutung geworden und darüber
hinaus ein Lichtstrahl in der Nacht eines ganzen ge-
demüthigten Volksstammes.
So erzählt uns Zweig's Einleitung vom Leben
des Künstlers. Hören wir nun, was die Zeichnungen
des Bandes von seinem Schaffen zu reden wissen!
was uns beim Durchblättern des starken Bandes*)
sofort angenehm auffällt, ist die weise Selbstbeschränkung,
mit der unser Künstler das ihm Erreichbare ausbaut
und vertieft. Er hat das ihm eigene Gebiet der
Zeichnung niemals verlassen. Diese Zeichnung bedeutet
bei ihm aber nicht eine rein technische Fertigkeit, eine
bloße Linienfreudigkeit, wie z. B. bei Melchior Lechter,
sondern sie ist zugleich für die ganze Natur des Menschen
außerordentlich charakteristisch. Ein oft recht abstrakter
Gedanke taucht in dem Naume auf. Es sind fast durch-
schnittlich tiefe philosophische Probleme, denen er seine
werthvollsten Blätter widmet, Probleme, scheinbar viel
zu spröde, um jemals Körperlichkeit anzuiichmen. Nur
höchst selten ist ein alltäglicber Vorgang verwerthet.
Und wenn, so erprobt sich auch hier wieder der alte
Erfahrungssatz, daß das denkbar Einfachste in der Aus-
führung das Allerschwerste wird. So sein nur liebstes
Blatt „Das stille Lied". Zwei Menschen Herzen und
küssen sich, nichts ist simpler. Stelle dem gewöhnlichsten
Zeichner diese Aufgabe, und er wird sie ohne Besinnen
ausführen. Und dann vergleiche das so gewonnene
Blatt mit dem Blatte E. M. Lilien's. Der Unterschied
wird Dir sehr schnell einleuchten. Schon die Symbolik,
welche den Kuß zweier sich liebender Menschen „Das
stille Lied" nennt, umstrickt uns von vornherein. Denn
sie verräth einen Dichter, einen tiefsinnigen Menschen-
kenner, der es wie wenige versteht, daß Liebende im
Augenblicke des Kusses innerlich ein Lied vernehmen,
dessen Schönheit allen äußeren Tönen überlegen ist.
Der Kuß ist ja, wie die orientalischen Dichter es so
häufig wiederholen, „das Lied schöngeformter Lippen",
in seiner Bewegung, seinem Einflüsse auf den ganzen
Körper Musik der Linie. So hat es auch Lilien ge-
faßt. Die sitzende Frau streckt dem auf sie zutretenden und
sie zum Kusse umschlingenden Manne ihren ganzen
Körper hingebend entgegen. Durch Mittel, deren außer-
ordentliche Einfachheit nur einem technisch Großen so
völlig zu Gebote steht, hat Lilien die überzeugende
Wahrheit des Vorganges erreicht, durch die feine Hals-
linie der Frau, durch die geradezu rührende Weichheit
des linken, mit einein Schlangenringe geschmückten
Armes, dessen Hand so ausdrucksvoll ist in der Kraft-
losigkeit, mit der sie den Nacken des Mannes liebkost.
* Verlag von Schuster Üc Loeffler, Berlin.

Und dieser Mann ordentlich byzantinisch steif. Aber siehe,
der linke Fuß tritt vor, und in Folge dessen strafft sich
das Gewand in schroffer Falte nach hinten ab. Und
sofort wird aus der Steifheit gewaltige, nur mühsam
gedämpfte Leidenschaft. Das sind Alles so großartig
schlichte Mittel, daß man, um sie in ihrer ganzen einfachen
Feinheit zu verstehen, wohl selber ein wenig Künstler
sein muß. Der Laie aber wird sich wenigstens der
durch diese Mittel erzeugten trefflichen Wirkung un-
möglich entziehen können. Und das ist ja die Haupt-
sache. Zu Füßen der Frau Weintrauben und Melonen in
üppiger Fülle, Symbole der Fruchtbarkeit. Sie füllen
zugleich die linke Ecke des Blattes auf's Trefflichste
aus. Als Seitenleisten und vorzügliche Abschlüsse zwei
blühende Nosenbüsche. Gerade das seltsam Verschlungene
der Zweige, das „Stilisirte", wie es verständnißlose
Kritiker tadelnd nennen, erzeugt eben die gewollte
Stimmung des wollüstigen. Zwei sich schnäbelnde
Tauben im Hintergründe sind ein weiteres Symbol. Sie
füllen gleichfalls eine leere Stelle im Naume aus, wie
denn bei Lilien kein Symbol um seiner selbst willen da-
steht, wie das die Zersplitterung, die Dekomposition
geringwerthiger Zeichner ausmacht, sondern lediglich
ein Mittel zeichnerischer Verwendung ist. Lilien ist ein
künstlerischer Pantheist. So läßt sich wohl auch seine
Technik am besten umschreiben, wenn wir hier die den
Laien nur verwirrenden Fach-Ausdrücke vermeiden wollen.
Der Zeichner hat ebenso wie der Philosoph dieUeber-
zeugung des Lins in Allem, der Ursubstanz, deren
Modi alle sichtbaren Dinge sind. Ja, von der Stärke
dieser Ueberzeugung hängt oft geradezu seine zeich-
nerische Bedeutung, die Geschlossenheit seiner Kom-
position ab. Es ist aber etwas Anderes, Gedanken in
Worte zu kleiden und sie körperlich darzustellen. Für
den Künstler ist der Körper ein Ausdruck des Geistes,
will er also eine Idee wiedergeben, so muß er genau
die Form kennen, in der sie sich äußert. Aus was aber
setzt sich die Form zusammen? Aus Linien. Wie nun
der Themiker das eine Urelement sucht, so der Zeichner
die eine Grundlinie, aus der alle anderen nur Zu-
sammensetzungen sind. Denn dasIiatürliche Geschehen
lehrt, daß die Entwicklung vom Allereinfachsten bis zum
Verwickeltsten fortschreitet, das nur eine Komplikation
des Einfachsten ist.
Ich hoffe, man wird diese kurze Darlegung der
Grundlage alles künstlerischen Schaffens verstehen.
Dieses Finden der Linie ist nämlich nicht so einfach. Es
gelingt nur den künstlerisch ganz Befähigten. Daß
Lilien diese Linie wirklich und unleugbar findet, ist eben
das Zeugniß für seine hervorragende Befähigung, denn
indem nun aus dieser Linie vermittelst der durch seine
Arbeit zu erweckenden Technik das Bild sich empor-
baut, wird es einheitlich und geschlossen, während bei
denen, die ohne eigenes Finden den Anderen etwas ab-
zugucken suchen, nur ein bunter Mischmach heraus-
kommt. weil nun aber nicht zwei Menschen gleiche
Augenpaare haben, so sieht auch Jeder die Linie
anders. Das nennt man dann persönlichen Stil.
Lilien besitzt diesen persönlichen Stil im höchsten Maße.
Man wird nie eines seiner Blätter für das Werk eines
anderen Künstlers halten. Das aber ist das Große an
ihm. Irgend ein Blatt fällt mir in die Hand, und so-
fort schwebt der Name Lilien auf meiner Zunge. So
ist jeder echte Künstler ein Einziger und Unersetzlicher.
Ich habe aus den ca. 80 Blättern des Bandes
gerade das mir liebste zum BeweiseDneines Lxempels
herausgegriffen. Damit soll gegen die übrigen nichts
gesagt sein. Ungefähr ein Drittel des Buches ist ganz
trefflich. Der Nest ist in jedem Falle künstlerisch. Wir
 
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