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Die Kunst-Halle — 9.1904

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Nummer 21
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Brieger, Lothar: Zur Entwicklung der russischen Malerei im 19. Jahrhundert: II. Das Profanbild
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S2H
2«r Lntvicklung Ser rurrircken Merei
im IS. IskrkunSert.
II. Das Profanbild. (Schluß)
Don Lothar Brieger-Wasseroogel, Weimar.

Die russische Moderne.
as Auftreten Ferotow's hatte unleugbar das Gute
mit sich gebracht, daß die Künstler nicht mehr
ausschließlich italienischen oder antiken Motiven
nachjagten, sondern wieder in nähere seelische Fühlung
mit ihrem Volke traten. Nachdem sich so ihr Geist
von den seit Brjullow nunmehr genügend ausgetretenen
Geleisen entfernt hatte, konnte es nicht ausbleiben, daß
auch ihr Interesse für die Fortschritte, die in malerischer
Hinsicht seit den Nazarenern in Westeuropa gemacht
waren, in höherem Maße rege wurde. Der Realis-
mus hielt seinen Einzug in Rußland. Und zwar, wie
es in" der Natur der Dinge lag, trat der Naturalismus
hier nicht so unangenehm brutal zu Tage, wie das im
ersten Ueberschwange unserer Jungen mitunter ge-
schehen ist. Ein Hauch des Italienerthums der Brjullow-
schule veredelte ihn von vornherein. Immerhin dürste
es recht wichtig sein, zu betonen, daß wir auch hier
niemals von einer eigentlich russischen Technik, russischen
Malerei zu sprechen Gelegenheit haben werden. Es
ist und bleibt ein Sprößling westeuropäischer Malerei.
Ilja Rjepin (geboren ist Haupt und Führer
dieser Bewegung, ein Maler von außerordentlicher
Kraft, der seinen großen westeuropäischen Kollegen
wohl in keiner weise nachstehen dürfte. Seine „Bur-
laken" — Burlaken werden in Rußland die Arbeiter
genannt, denen das Schleppen der Lastkähne obliegt,
sind ein ganz einwandfreies Meisterstück, das sich zu
einem Bilde etwa von Liebermann verhält wie das
Werk eines echten und tiefen Künstlers zu dem Ver-
standesprodukt eines sehr gescheidten Kopfes. Mit außer-
ordentlichem Raffinement und feinstem Raumsinn sind
die Gestalten der Schleppenden immer neu und ver-
schiedenartig motivirt und ausgesührt und farbig ganz
prächtig gegen den Himmel und die Fläche des Landes
gestellt. Ebenso tief und sein sind seine Porträts, von
denen vor Allem die Tolstoi's auch bei uns Eingang
gesunden haben. Aus alledem spricht die mächtige
Ethik einer durchaus genialischen, der Technik sehr
mächtigen Persönlichkeit. Mag schon diese Technik von
Frankreich entnommen sein.
Schulter an Schulter mit Rjepin steht N. A. Iaro-
schenko (lM6—(899)- Ich kann mir nicht Helsen,
auch gegen Wolynski sehe ich hier eine wirklich be-
deutende bodenständige Kunst. An Meisterlichkeit der
Technik ist Iaroschenko mit keinem anderen Russen ver-
gleichbar. wie hier der Mensch aus dem Raume
wächst, typisch und ihm eng verbunden in seiner Er-
scheinung, wie ihn Licht und Luft umspielen, das
schließt einfach die Kritik aus. Uud diese Menschen sind
Russen, wie sie eben nur ein Russe schaffen konnte.
Ich muß gestehen, daß ich viel zu wenig von diesem
großen Maler kenne, der in seiner Heimat noch bei
weitem nicht das Ansehen genießt, das die Zukunft
seinen Bildern zweifelsohne bringen wird. Er ist ein
sozialer Maler, seine Kunst ist keine freudige, sondern
eine bedrückte, anklagende. In dieser ihrer Eigenart
aber besitzt sie eine giganteske Macht wie wenige
moderne Malerei.
Noch eine ganze Anzahl sehr bedeutender Talente
wären hier zu nennen, der seine Archipow, der farben-

Nr. 2 s

freudige Konstantin Korowin, und die beiden glänzenden
Porträtmaler w. Sjerow und Baket, der sehr oft in
München ausstellt. Jedenfalls hat diese Richtung eine
Blüthe der russischen Malerei gezeitigt, neben der alles
vorangegangene kleinlich und schwach erscheint, und die
sich auch langsam die lange vorenthaltene Beachtung
West-Europas zu erzwingen beginnt. Hierher gehört
auch der von den modernen Holländern stark beein-
flußte, aber trotzdem sehr selbstständige L. Pasternak,
neben Marie Bastkirtjeff der einzige russische Maler,
von dem die Gallerte de Luxembourg ein Bild „Vor
dem Examen" angekaust hat. was schon immer etwas
sagen will.
Lin abschließendes Urtheil läßt sich über diese ganze
noch in ständiger Entwicklung begriffene Richtung
genau so wenig fällen, wie über jene drei jungen
Maler, die vom Naturalismus ausgehend bereits über
diesen hinausgelangt sind, über Konstantin Somoff, den
bei uns in Deutschland bekanntesten jungrussischen
Meister, über PH. Maljavine und über M. wrubel.
In Rußland selbst werden ihre Namen als die von
Dekadents mit einer gewissen heiligen Scheu ausge-
sprochen, und dabei schlägt man drei Kreuze, wir in
Deutschland werden diese Scheu nicht recht verstehen
können. Denn hier ist nichts von jener gänzlichen Ver-
wilderung in Form und Farbe, die wir in einigen der
linksstehenden Früchte unserer Sezession mit Schaudern
kennen und die meist nur bramarbasirende Gebärden
uneingestandener Impotenz bedeuten. Ls bleibt ein
unbestreitbares großes Verdienst der Berliner Sezession,
uns mit Konstantin Somoff bekannt gemacht zu haben.
Die „Dame in Blau" ist unstreitig eines der seelisch-
tiefsten Porträts der Moderne überhaupt und Somoff's
bestes Werk. Sie dürste den Lesern dieser Zeilen noch
in Erinnerung sein und das beste Beispiel geben für
die feine und etwas schmerzliche Kunst dieses jungen
Malers, der in ein wenig wehmüthiger Abkehr von
seiner Zeit die Poesie entschwundener Epochen aufsucht,
um auf ihr, ein reiner Lyriker, wie auf einer alten Laute
träumerische Akkorde hervorzuzaubern. Ls ist eine bedeu-
tende, aber keine große Kunst, der allen Anzeichen nach
M. wrubel entgegen zu ringen scheint. Noch ist zu
viel chaotische Gährung und Unreife in dieses jungen
Künstlers Bildern, um jetzt schon ein klares Bild seiner
zukünftigen Entwicklung geben zu können. Ein ernstes
und stolzes wollen und eine bedeutsame Kraft lassen
sich nirgends verkennen und machen selbst das minder
Gelungene beachtenswerth. Sein bis jetzt hervor-
ragendstes Werk „Der Dämon" ist wohl das werth-
vollste Dokument dieses Kampfes der jungrussischen
Kunst. Unter diesen drei Künstlern ist Maljavine der
extremste Kolorist, der Bilder von starkem Reize ge-
schaffen hat. Nach dem Werke, mit dem er auf der
diesjährigen Berliner Sezession vertreten ist, darf man
ihn keineswegs beurtheilen. Die demnächst folgende Ab-
bildung mag immerhin eine Ahnung von dem ge-
währen, was er will und vermag.
Ueber Wereschtschagin I8fl2—(90P, dem erst
kürzlich anläßlich seines tragischen Todes in reichlichen
Nekrologen Lob gespendet wurde, ist im großen Zu-
sammenhänge eigentlich wenig zu sagen. Er war nur
ein Maler von Mittelgröße, dessen einzige Originalität
es war, der russische Schlachtenmaler zu sein. . . Nicht
schließen möchte ich indessen diesen Aufsatz, ohne nach-
drücklich auf den größten und originellsten Künstler hin-
zuweisen, den Rußland bis heutigen Tages überhaupt
hervorgebracht Hatz auf I. I. Levithan (f86s—(900).
Ls ist sonderbar, aber für den heutigen seelischen
Untergrund russischer Kunst bezeichnend genug, daß die

Die Aun st-Halle.
 
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