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Die Kunst-Halle — 9.1904

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Nummer 20
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Neumann, Ernst: Was die Kunst in Paris sagt
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3W

bemerken, im Gegentheil, man kann hier eine einsame
Frau in unbestimmter, reicher Toilette beobachten,
welche im Tanzschritt des lauernden Paßganges einer
Ratze sich aus einem einsamen Parkweg vorwärts be-
wegt. Die Hände scheinen ein imaginäres Gewand zu
raffen, der Oberkörper ist vorgebeugt, der Ropf von
kalten, blaugrünen Laubreflexen übergossen, die Züge
sind kaum erkennbar. Man nähert sich unwillkürlich
vorsichtig dieser Gestalt, gleichsam als ob man ein
Näthsel lösen möchte, und bemerkt nur in leise an-
gedeuteter Zeichnung zwischen schönen, scharf markirten
Zügen zwei boshafte, graue, menschliche Augen. Der
fette Nasen des Markes ist von blendenden Sonnen-
lichtern durchbrochen, ein mächtiger, schwarzbrauner
Baum entfaltet seine Aeste und zieht sich strahlenförmig,
wie Sprünge in einem durch einen Steinwurf zerstörten
Spiegel, über die linke Seite der Tafel. Ts ist Nach-
mittag, und das Labyrinth der Blätter schimmert in
den smaragdgrünen Farben der Laubschatten. Hinter
den Baumgruppen erglänzt blendend gelb eine palast-
fassade, und die Gestalt verbreitet eine Einsamkeit, das
starr auf dem Boden stehende Sonnenlicht eine der-
artig drückende Schwüle, daß man unwillkürlich die
Rnöxfe seines Rockes schließt, um dem panischen
Schauer, den diese Szene ausstrahlt, zu begegnen. Die
Szenerien der übrigen Bilder sind ebenso einfach in
ihrer Gruppirung und von ehenso starker Wirkung.
Ls scheint, daß ein Dämon dem Künstler die Hand ge-
geführt hat, um sich hier einmal in menschlichen Attitüden
kundzuthun.
wer kennt nicht die pariser Kokotten des Mont-
martre! Dieser Theil der alten Lutetia ist seit Jahr-
zehnten? die Brutstätte und das Lrziehungshaus einer
seltsamen Frauenrasse. Alle diejenigen, deren unge-
zügeltes Temperament, deren leidenschaftliche Phantasie-
tänze und^Gesten, welche man auf allen internationalen
Bühnen zu sehen Gelegenheit hat, und deren ver-
wegene Sicherheit man bewundern muß, die anspruchs-
voll wie Fürstinnen und herablassend wie eine Polizei-
exzellenz sind, sie alle sind vom Montmartre herab-
gestiegen, nachdem sie dort das Gift des Mithridates
genossen hatten. Wer kennt nicht die typischen Gestalten
des Montmartre - Tafss „R^t, mort": jung, kräftig,
übermüthig und doch schon halb voll Weltoerachtung.
Hier gehen die Hetären des pariser Proletariats
in die erste Lebensschule, hier lernen sie, wie man
später Könige demüthigt und Millionäre zu Bettlern
macht, hier studiren sie die Grammatik der Sprache, in
welcher man Schicksale diktirt. Desvalliores hat un-
barmherzig ein halbes Dutzend dieser Weltseelen mit
seinem pinsel auf die Leinwand gebannt. Ls gehört
viel dazu, das Porträt des Teufels ohne Hörner und
Pferdefuß zu treffen. Leibhaftig sind diese Irrwische in
der Umgebung ihrer Nachtfarben nun verdammt, drei
Monate lang bewegungs- und wehrlos Kritik über sich
ergehen zu lassen. Die Figuren sind so lebhaft dar-
gestellt, daß erscheint, als ob sich die letzten Pinselstriche
noch bewegten.
Guillaume, der uns auch als Zeichner nicht
fremd ist, enthüllt sein weiteres Stück Paris; aber er ist
nicht der Geisterseher wie die beiden Anderen, sondern
der harte, schonungslose Satyriker. In einer vorzüglich
gegebenen Gxernloge entblößt er dem Beschauer einige
Typen, für welche Kunst auch nur Vehikel ist. Lin
Waarenhaus von Paris, worunter man sich beileibe
nicht den glänzenden Laden eines streng in seinen
Grenzen gehaltenen mitteleuropäischen Kommerzienraths
vorzustellen hat, ein Waarenhaus von Paris sieht sehr
anders aus; über das ganze Trottoir hinausgedehnt,

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breitet in hohen Stapeln der betreffende Jünger Merkur's
wie ein Sklavenhändler seine waaren aus. Lme grell-
farbige Segeltuchjalousie schützt seinen Reichtum nach
Möglichkeit gegen die Launen Iupiter's. Der Trottoir-
mensch, will er sich nicht über die Leiche des Laden-
besitzers seinen weg bahnen, muß den Bürgersteig ver-
lassen oder muß etwas kaufen. Hier giebt es Alles,
was man brauchen und nicht brauchen kann, hier liegen
packete von Ansichtskarten friedlich neben Haarnadeln
und populären Ausgaben Victor Hugo's, hier kann
man auf der Straße seine Söhne und Töchter aus-
rüsten und sich selbst einen Sarg bestellen. Der ganze
Krempel ist mit Staub bedeckt und käuflich wie das
künstlerische Gewissen mancher Mitbrüder in Preußen.
Sehen Sie, lieber Leser, das Alles giebt es auf dem
Bilde Guillaumes zu sehen; das feilscht, das schreit,
das hantirt in unbeschreiblichem Durcheinander und ist
gemalt.
Legrand bietet uns neben vorzüglichen Typen-
porträts vor Allem den Abdruck einer im ersten Stadium
befindlichen Nadirung. Lin französischer Mann drückt
mit dem einen Arm die weichtheile eines jungen
Mädchens an sich, während er mit der anderen Hand
ihre Backen umspannt, um ihr den Kopf zu heben.
Das Alles ist nichts wunderbares und pflegt man
öffentlich nicht nur hier, sondern auch, wenn das Auge
des Gesetzes und des Zentrums schläft, in München
und Berlin zu sehen. Aber mit welcher unendlicken
Zwanglosigkeit und Sicherheit des Striches dies Alles
geschrieben ist, das pflegt man nicht oft zu sehen.
Dabei ist das Blatt von so wundervoller, weicher
Frische, daß es zu bedauern wäre, wenn der Künstler
es noch einmal unter die Finger bekäme. Hiermit ist
zugleich die Graphische Abtheilung der Ausstellung er-
ledigt, von welcher sich im Uebrigen nur ein üblicher
Kunstvereins-Bericht aufstellen ließe. Man zeigt hier
weder einen technischen, noch einen geistigen Fortschritt
unseres neuen Schmerzenskindes.
Die Akademiker sind zahlreich vertreten, sie sind zu
bekannt und zu geschätzt, und ihre Stellung ist eine so
gefestigte, daß es nicht rathsam erscheint, ihre Werke an
dem großen Maßstab unserer Zeit zu messen und diese
Resultate zu veröffentlichen. Genug, sie sind sich noch
immer treu und gleichwerthig geblieben, und ihre Bilder
sind nur neue Varianten des Trittes, der sie an die
Geffentlichkeit befördert hat und ihnen den Freibrief
der offiziellen Pfleger und Hüter nationaler Kunst ein-
brachte. Hier ist vor allen andern Tarolus-Duran
welcher mit drei Riesentableaux, die stets von Verehrern
umlagert sind, der Ausstellung die offizielle weihe
erteilt. Duran's Ruhm können wir nichts hinzufügen,
als nochmals bestätigen, daß er der König der Pose
und der Schöpfer eines wunderbar naturwahren und
effektvollen Panoptikums ist. Sein Bettler-Aristokrat
begegnete uns vor der Ausstellung und bot uns Streich-
hölzer an, um damit die Tigarette zu entzünden, welche
die Nachwehen des großen Schaufestes Hinwegräuchern
sollte. Ich nahm diese Streichhölzer dankend an und
konnte die Genugthuung, einem der Geister Duran's
im Leben begegnet zu sein, mit zwei Sous begleichen.
Da wir auch nur Menschen sind, so schmerzen uns
jetzt Glieder und Sinne ebenso sehr, wie den Modellen,
welche den vielen, vielen Bildern ihre Leiber geliehen
haben. wir sehnen uns nach einer kräftig aus-
schreitenden Bewegung und müssen vielen Künstlern
Unrecht thun, indem wir ihre Werke nicht eingehend
genug betrachten können. Sie mögen uns daher ver-
zeihen, wenn wir nur sagen, daß jeder sein Bestes gab,
daß Delville auf einer Riesenleinwand „I/llomms visu"

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