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Die Kunst-Halle — 9.1904

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Nummer 24
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Brieger, Lothar: Zur Entwicklung der russischen Malerei i. 19. Jahrhundert
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Die Ann

Wasnezow's Worte waren eine Mahnung zur
rechten Zeit, wir haben in den beiden vorangegangenen
Aufsätzen gesehen, wie die russische Kunst haltlos hin
und her schwankte, bald altitalienischen, bald modern
westeuropäischen Einflüssen unterliegend, ohne über all'
diesen wirren zu einem eigenen Stile zu gelangen oder
vielmehr ohne über Ansätze zu einem solchen hinaus zu ge-
langen. Wasnezow predigt in richtiger Erkenntlich
Abkehr von den fremden Einflüssen und Einkehr in die
eigene Seele, in das Fühlen des russischen Volkes. Er
erkennt, daß eine nationale Kunst auch im technischen
Sinne nur aus Eigenem erzeugt werden kann, daß man
mit den fremden Techniken zugleich fremdes Denken
und Empfinden herübernimmt, ein Nachahmer und ein
Nachstammler wird, anstatt ein freischaffender Künstler
zu sein. Und so fordert er denn energisch Boden-
ständigkeit, „Heimaikunst", wenn man will.
Die zweite Frage war nun, ob man diese neue
Kunst erst ex kunämuento schaffen müßte, oder ob nicht
bereits Grundlagen vorhanden waren, auf denen sich
weiter bilden ließ. Auf dem Gebiete des Profanbildes
war wenig zu hoffen. Der Einfluß Brjullow's und
vielleicht mehr noch Iwanow's wirkte in unheilvoller
weise fort, verbildete und unterdrückte alle hoffnungs-
volleilsungen Keime, die sich wohl hier und da blicken ließen,
und wachte angstvoll darüber, daß kein frischerer Luft-
zug wehe. Auf der anderen Seite verfolgten die echteren
Künstler, die Realisten, kosmopolitische Tendenzen, sorg-
sam bemüht, die Unterschiede zwischen Rußland und
Westeuropa schwinden zu machen.
Blieb also für den, der nach einer nationalen
Kunstentfaltung suchte, das Kirch en bild übrig. Zwar
hatte auch hier die italienische Schule reformatorisch
einzugreifen versucht, aber ihre sollst so siegreiche Macht
war am hartnäckigen Widerstande des Eingewurzelten
gescheitert. Mail schätzte die Thätigkeit Brsullow's und
der Seinen auf diesen: Gebiete, aber man sah sie nur
als eine Episode an, nicht als etwas, auf dem sich
weiter bauen ließe. Einzig hier gab es also in der
russischen Kunst eine starke Tradition, die sich von: Neu-
modischen nicht so glatt über den Kaufen rennen ließ,
sondern es überwand. Nur ein nationaler Eigeilgehalt
aber verleiht diese Widerstandsfähigkeit, während alles
Angeflogene, Anerzogene nur sich einer zeitlich außer-
ordentlich beschränkten Wirksamkeit zu erfreuen vermag.
Tritt mail in eine der unzähligen alten Kirchen
Rußlands, so verblüfft den kunstsinnigen Laien die außer-
ordentliche Aehnlichkeit, welche die hier befindlichen
Heiligenbilder mit der italienischen Kunst bis Timabue
aufweisen. Byzanz ist die unverkennbare Mutter beider
Stile. Bald merkt man denn auch, wo die Wege aus-
einandergehen. Der Italiener hat das Alltagsleben
mit aller verwirrenden Mannigfaltigkeit ständig vor
sich. Er ist ein Mensch im Getriebe der Anderen, ge-
winnt ein scharfes Auge für die Schönheit des mensch-
lichen Körpers und des Spieles seiner Linien. Daneben
erscheinen ihm die byzantinischen Heiligen etwas, ich
möchte sagen, Tieferstehendes. Und so sucht er sie denn
dem Ideale seiner Sinne anzunähern, Götter und
Heilige werden Menschen, Uebermenschen. Dem alten
russischen Künstler öffnen sich andere Tage der Ent-
wicklung. Ueber ein weites Land hin ist eine verhält-
nißmäßig geringe Menschenanzahl zerstreut. Die Ge-
selligkeit entwickelt sich dadurch in geringerem Maßstabe.
Der Künstler, welcher noch dazu als Handwerker einen
der verachtetsten Lrwerbszweige pflegt, ist sehr stark auf
sich selbst angewiesen. Sein Ideal wird demnach nicht
das einer Annäherung der Ideen an das Leben sein,
sondern vielmehr ein asketisches, die Ueberwindung des

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Lebens zu Gunsten der himmlischen Welt. So wird
ihm das, was die Weltmenschen Schönheit nennen,
Sünde sein.
Diesen konsequenten Entwicklungsgang kann man
in den russischen Kirchenbildern verfolgen. Sie über-
treffen an Starrheit und Lebensentfremdung oft noch
Byzanz. Eines aber haben sie vor der Vaterkunst
voraus: die starke Innerlichkeit, waren dem Byzan-
tiner Gott und Gottessohn himmlicher König und Kron-
prinz, die dem Anbetenden durch keinerlei Menschliches
näher treten durften, so durchglüht der Russe diese
Schemen mit seiner eigenen religiösen Liebe und bringt
die seinem Kulte spezifische Wärme in die Darstellung.
Auf diese Art entsteht aus byzantinischen Ueberlieferungen
und russischem Religionsempfinden ein neuer Stil.
Freilich zunächst nur bescheiden und in der Ver-
borgenheit, ohne die Kunst des Alltags irgendwie zu
beeinflussen. Noch fehlte der Reformator, der Helles
Licht über das Ganze warf, das Alte mit dem neuen
wissen verquickte und die gewonnene nationale Eigenart
auf alles zu übertragen kühn genug war. Dieses wurde
die bedeutsame That Victor Wasnezow's, mit der er
sich zu einem künstlerischen Reformator machte, in viel
größerem Sinne als Brjullow das war, in nationalem
Sinne. Und das konnte er nur, weil er selbst eine be-
deutende Schöpferpersönlichkeit vornehmster Art war.
Victor Michailowitsch Wasnezow wurde am 5. Mai
s848 im Dorfe Kjabowskoje, Gouvernement wjatka,
geboren. Sein Vater war tief religiös, diese Religiosität
theilte sich dem Knaben mit und hat die ganze Richtung
seines späteren Lebens und Schaffens mitbestimmt. Das
zweite seine Kindheit beherrschende Element war das
russische Bauernleben, für das er immer Neigung und
Liebe bewahrt hat. Alles das verband und verknüpfte
sich in einer schon früh äußerst regen Phantasie, die
Alles bildmäßig schaute und besonders zum Legendarischen
und Märchenhaften sich hingezogen fühlte. Auf diese
Art sättigte sich das junge Gemüth vor Allem an
Dingen, die man als nationalrussische bezeichnen kann,
blieb originell und bodenständig und ging nicht in jener
modernen Erziehung unter, welche die meisten Russen
schon in erster Kindheit dem ihnen eigentümlichen
Fühlen zu entfremden bestrebt ist.
Seine künstlerische Bildung verdankte er der Peters-
burger Kunstakademie. Njepin und Kramskoi wurden
hier seine Kameraden und bald auch seine intimen
Freunde. Alle drei waren ja fern von der Großstadt
ausgewachsene Kinder des Volkes. Der freien Ent-
wicklung der Individualität kam der Kunstunterricht
damals in Petersburg mehr zu Hülfe, als das heutigen
Tages der Fall ist. Man besaß eben noch keine künst-
lerische Schablone und damit fiel auch das Bestreben
fort, die verschiedenen Individualitäten in gezwungener
Entwicklungsuniform herauszubilden. Nach den an-
strengenden Studien des Tages kamen Abends die
jungen Künstler zusammen, um in ungezwungenem
Kreise Erholung zu suchen, im Lesen ihrer Lieblings-
bücher. Da holte man Puschkin hervor oder wohl auch
Gogol.
s876 wandert der Künstler nach Paris. Im alten
Seinebabel bildet sich um diese Zeit eine ganze russische
Künstlerkolonie. Rjexin stellt sich ein, poljenow und
Lewizki finden sich gleichfalls dazu. Von all' diesen
eng befreundeten Künstlern hat, kritisch betrachtet,
Wasnezow den geringsten Einfluß von Paris erlitten.
Denn in seiner Seele war Rußland, wenn auch weniger
das Rußland der Wirklichkeit, als das Rußland der
Legenden und Märchen, das Land Rurik's. In einem
kleinen Landhäuschen bei Paris lebte er in einsanier
 
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