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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929

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Renner, Paul: Warum geben wir an Kunstschulen immer noch Schreibunterricht?
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https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0077

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dieser Bilder im Naturstudium des üblichen
Zeichenunterrichtes an Schulen und Kunst-
schulen.

Wenn der Handwerker in jeder Phase seiner
Arbeit nur seiner Vorstellung folgt, genügt er
unbewußt den Normen einer „anschaulichen
Logik", die den Adel jeder Form ausmachen.
Dieser natürliche Arbeitsvorgang wird schon
durch die Arbeitsteilung der Manufakturen ge-
fährdet. Doch steht noch lange an der Spitze
des Unternehmens der Meister, der nicht nur
Arbeitsmethode, sondern auch die FORM des
Arbeitsproduktes bestimmt. Ansehen des
Meisters und Ruf der Werkstätte beruhen auf
der Gediegenheit und Formenschönheit der
Ware. Die Einführung der Maschine ändert das
durchaus. Die Werkstätte wächst, wird zur Fa-
brik, wird zur Großindustrie, produziert an einem
Tag mehr als früher in zehn Jahren. Der Unter-
nehmer hat alle Hände voll zu tun, Produktion
und Absatz zu organisieren und Kapital zu be-
schaffen. Die Ehre des Unternehmens liegt jetzt
in seinem Kredit, im geschäftlichen Erfolg, im
Stand der Aktien. Das Produkt ist nicht mehr
Zeugnis einer sich vollendenden Meisterschaft.
Das immer rasender werdende Tempo der Ma-
schine verlangt gebieterisch, daß der Artikel Ab-
satz finde, daß er der Kundschaft gefalle. Doch
ist auch die Kundschaft nicht mehr der treue,
verständige Kunde des alten Handwerks, sondern
anonyme Masse, die rasch vermehrte, aus allen
Bindungen der alten Kultur herausgerissene und
in den neuen Industriezentren zusammenge-
strömte Bevölkerung; dazu neuer Reichtum, der
nur Protzerei und Vergnügen kennt. In diesem
künstlerischem Zusammenbruch des neunzehn-
ten Jahrhunderts tritt nun zum ersten Male der
„Künstler" auf, der Künstler schlechthin, der an
Kunstgewerbeschulen in allen möglichen Stilen
aber ohne eigentliche Kenntnis des Arbeitsvor-
ganges ausgebildete Hauszeichner. Seine be-
klagenswerte Rolle in diesem Arbeitsprozeß ist
von Gottfried Semper vor sechzig Jahren ge-
schildert worden; können wir sagen, daß es
heute so viel anders geworden sei?

„Eine große Anzahl zum Teil begabter Künst-
ler arbeitet mit fester Anstellung für die englische
und französische Industrie; und zwar in doppelter
Dienstbarkeit: des Brotherrn einerseits, der sie
als ziemlich lästige Geschmacksräte und Formen-
verzierer nicht für ebenbürtig erkennt, selten gut
belohnt; der Mode des Tages andererseits, die
den Absatz der Ware garantieren muß, wovon
doch am Ende alles abhängt: Zweck und Existenz
der industriellen Anstalt. So bleibt die Initiative
in der industriellen Produktion dem Künstler

durchaus fern; dieser tritt vielmehr nur als
Rubrik unter den Spezialitäten auf, die der Fabrik-
herr beschäftigt; ungefähr wie die Bereitung der
Tonmasse einen besonderen Kneter erfordert,
oder wie die Leitung der Öfen einem Oberheizer
übergeben ist, der eine Anzahl Unterheizer unter
sich hat. Nur mit dem Unterschied, daß der
Fabrikherr letzteren meistens freie Hand läßt,
weil er die Unzulänglichkeit seiner eigenen tech-
nischen Kenntnis fühlt; wohingegen jeder Esel
etwas von der Kunst verstehen will. Angaben
des Künstlers werden ohne Bedenken kritisiert,
verfälscht und verstümmelt, wo sie dem Ge-
schmack des Fabrikherrn nicht zusagen oder
irgend ein Werkführer Bedenken wegen der Aus-
führbarkeit, der zweifelhaften Einträglichkeit, der
Auslagekosten oder dergleichen äußert." — Der
neue Stil konnte nur dort entstehen, wo sich der
gestaltende Mensch die entscheidende und ver-
antwortliche Stellung zurückerobert hat, die er im
alten Handwerk inne hatte: ob man ihn Ingenieur
oder Künstler nennt, das ist nicht wesentlich.

Diese Gestalter machten sich früher oder spä-
ter frei von der Formentradition des Handwerks
und fanden die Form, die der Maschine ge-
mäß ist. Handwerkliche Arbeit ist die Spur
von tausend menschlichen Bewegungen. Wie
die Handschrift als eine graphische sichtbar
gemachte Ausdrucksbewegung untrüglich den
Charakter des Schreibenden verrät; wie die Züge
des Gesichts, die Gestalt der Hände, der Körper-
bau und noch mehr das Mienenspiel, die Geste
der Hand, der Gang und die Haltung eines Men-
schen deutlich sein ganzes Wesen zeigen, so
erwarten wir auch von der handwerklichen Arbeit
menschlichen Ausdruck. In der Charakterkunde
gilt Ausdrucksgehemmtheit einfach für Mangel
an künstlerischer Begabung. Nicht Expressionis-
mus, der ja gewollter und deshalb affektierter
Ausdruck wäre, aber Ungehemmtheit, Freiheit,
Gelöstheit des Ausdruckes fordern wir in den
Künsten, die uns den Menschen selbst am Werke
zeigen.

Das Maschinenprodukt ist nicht das unmittel-
bare Ergebnis menschlicher Bewegungen, son-
dern wird durch die mechanischen Bewegungen
der Maschine geformt; doch nach dem Plane,
nach der Vorstellung des Menschen. Jeder un-
mittelbare, vitale Ausdruck des Maschinenpro-
duktes würde uns deshalb peinlich berühren als
ein dummer Betrug; und der Verzicht auf diesen
Schwindel hat erst die kühle abstrakte Welt der
technischen Form geschaffen. Mag sie sich
auch noch so sachlich geben, so sehen wir doch
in der Klarheit, in der leichten Faßlichkeit, in
der Logik und Ökonomie ihrer Formgebung wie

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