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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929

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Villon, Pierre: Filmkunst in Frankreich
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https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0312

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alle komischen Effekte durch visuelle Elemente er-
reichend. Die Verlangsamung und die Beschleuni-
gung der Bildfolge dient nicht mehr als Trick, son-
dern wird notwendiger Bestandteil der kompositio-
neilen Durchbildung des Ganzen und komische Ein-
zelheit. Alles in diesem Film ist Bewegung, so sehr,
daß es mir unmöglich war, irgendein Einzelbild her-
auszunehmen und es als typisch hier wiederzugeben.
Ein gutes Zeichen, denn der Film ist keine Folge
von Bildern, ebensowenig wie der Tanz eine Folge
von Stellungen ist.

Ich übergehe den beschreibenden Film „Paris, qui
dort" und „La proie du vent", die ich selber nie ge-

Rene Clair, le chapeau de paille d'ltalie

Ironisierung der Filmpathetik und der Dekorationen

sehen habe. „Le voyage imaginaire" hatte eine ge-
schlossene Geschichte zum Thema, vielleicht, weil
in ganz Paris damals, vor drei Jahren, höchstens
zwei Säle (heute wären es fünf) einen Film wie
„Entr'acte" zu bringen wagten, und kein Regisseur
es sich leisten kann, Filme zu seinem Vergnügen zu
machen, vielleicht auch, weil das Sujet Rene Clair
reizte. Mit der Erzählung trat auch das psycholo-
gische Moment im Werk Rene Clairs auf und die
Schilderung des Milieus, die komischer Faktor wird.
Die etwas rührende Liebesgeschichte, wo das Wun-
derbare vermischt ist mit dem Alltäglichen, ist so
köstlich ironisch erzählt, so klug, daß man schlech-
ten Willens sein muß, um in ihr die kitschige Senti-
mentalität der Massenproduktion wiederzufinden.
Ebenso, wie ein Film nicht Kunstwerk wird, weil er
tragisch endet, ebensowenig ist er schlecht, weil
die Liebenden vereint werden. Der Humor und die
Wahrhaftigkeit in der Schilderung der kleinen Pro-
vinzstadt, der Bankfiliale mit ihrem ehrbaren Direk-
tor, ihren Buchhaltern, die Komik der Situationen,
die Neuheit der Einfälle, alles bewies das Können
seines Urhebers.

Vor einem Jahr erschien dann „Le chapeau de
paille d'ltalie" nach einem Theaterstück des fast
vergessenen L a b i c h e. Auch hier wieder ist das
Milieu als komisches Element verwertet und mit ihm
eine ganze Zeit: Die Provinzstadt um 1885. Die Vor-
kriegsfilme, die hier im Avantgarde-Kino „Studio des
Ursulines" seit vier Jahren vorgeführt werden, haben
sicher Rene Clair die Komik der Konventionen, des
falschen Pathos, der Kleidung und der Wohnung die-
ser Zeit gezeigt, und er hat sie mit Feingefühl aus-
genützt. Unwiderstehlich komisch wirkt der Gegen-
satz zwischen der lauten, aufgeregten Hochzeitsge-
sellschaft und dem schwerhörigen, leicht schwach-
sinnigen Onkel, der einschläft oder freundlich sein
verstopftes Höhrrohr putzt, während der Bräutigam
daneben um sein Leben zittert, oder die Ironie, die
darin liegt, daß dieser eine Szene, in der er sich
ziemlich jämmerlich benommen hat, nachher so schil-
dert, als ob er der Held der Situation gewesen sei.
Künstliche gemalte Dekorationen lassen erkennen,
daß er eine erfundene Situation beschreibt. Diesem
Film wurde von den in Betracht kommenden Käu-
fern vorgeworfen, er sähe aus wie ein Vorkriegs-
film, und einer warf ihm sogar vor, er enthalte nicht
genug Zwischentext!

Das letzte Werk Rene Clairs „Les deux timides"
ist vor einigen Wochen erschienen. Von Anfang bis
Ende strahlt es wieder die innerliche Fröhlichkeit
aus, welche für die anderen Arbeiten dieses jungen
Regisseurs bezeichnend ist und sie von der explosiv
wirkenden Komik Chaplins oder Buster Keatons
unterscheidet. Auch hier wieder erneuert er sich,
indem er andere Möglichkeiten des Kinos ausnützt:
die gleichzeitige Projektion von drei Bildern, das Ab-
drehen einer vorgestellten Szene nach vorwärts und
rückwärts, im Augenblick, wo der junge, schüchterne
Advokat den Faden seiner Verteidigungsrede ver-
loren hat. Manchmal sind zwar einige Längen zu
spüren und man bedauert, daß der Regisseur dies-
mal verhindert wurde, eine ebenfalls in den achtzi-
ger Jahren spielende Geschichte nicht in den Kostü-
men der Zeit wiederzugeben und dadurch die Psy-
chologie der Personen, ihre moralischen Reaktionen

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