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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929

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Riezler, Walter: "Form", Foto und Film
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https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0437

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wunden, an Stelle der erdachten oder erdichte-
ten Handlung tritt die Geschichte, mit dem An-
spruch der Wahrheit und „Wirklichkeit" vorge-
tragen und in der Tat ja auch auf jeden Zu-
schauer, der sich dem Eindruck hingibt, so wir-
kend, mag auch noch so viel „Tendenz" sich ein-
mischen. Immer wieder staunt man über diese
Kraft der Regie und über die Meisterschaft des
Fotografen, der nun seinem Objekt viel freier
und kühner gegenübersteht als der der „Dirnen-
tragödie", auch über den Reichtum an Einfällen,
die die historische Wirklichkeit ins Symbolhafte
erheben oder symbolhaft ironisieren („Kerenskis
Aufstieg" über die Treppe des Palastes bis an
die Tür der Zarengemächer, oder die härtenden
Friedensengel als Hohn auf die „Versöhnlich-
keit" der Kerenski-Regierung!), aber man verliert
darüber nie das Gefühl, vor einer „Wirklichkeit"
zu stehen, — an die auch die Ausführenden im
wahrsten Sinne des Wortes „glauben". Aber
dieser „Glaube" gehört eben dazu, wie auch die
Großartigkeit und Schicksalshaftigkeit des histo-
rischen Vorgangs, so daß man diese Revolutions-
filme trotz ihrer elementaren, echt volksmäßigen
Naturgewalt doch als einen Sonderfall betrach-
ten muß, der kaum stilbildend wird wirken
können.

Doch wichtiger fast noch, jedenfalls neuer
waren die Vorführungen jener „Avantgarde-
Filme", wie man die Arbeiten derjenigen getauft
hat, die den Film zu einer ganz selbständigen
Kunstform zu entwickeln hoffen. Was man hier
sah, das mußte allerdings im höchsten Grade
fesseln und zum Nachdenken anregen, — wenn
man auch nicht den Eindruck gewinnen konnte,
als sei der Weg der Entwicklung schon klar und
eindeutig vorgezeichnet. Im Gegenteil, die Wege
gehen kreuz und quer, und sicher führt mancher
in die Irre.

Auch unter der „Avantgarde", also unter
denen, die es sehr ernst meinen mit ihrer Auf-
gabe, gibt es solche, die die „Wirklichkeit" so wie
sie ist als die eigentliche Aufgabe ansehen, nur
daß sie an diese Wirklichkeit mit dem hohen Kön-
nen und dem scharfen Blick des Fotografen her-
angehen. Wenn Lacombe eine Fahrt durch den
„Canal St. Martin" von Paris schildert, so ist
das nicht nur ein Propagandafilm, der für die
Schönheiten von Paris wirbt, sondern eine fast
„rhythmisch" wirkende Folge von Bildern, mit
reifster Technik aufgenommen und deshalb wie in
sich abgeschlossen wirkend. Und noch stärker
ist dieser Eindruck bei einem Film „Die Brücke"
des Holländers Joris Ivens, der im Grunde auch
nichts anderes enthält wie die Filmaufnahme
einer sich öffnenden und wieder schließenden

Eisenbahnbrücke, und eines durch das öffnen
aufgehaltenen, dann wieder freigelassenen
Eisenbahnzuges. Nichts gestellt, alles nur be-
obachtete Wirklichkeit, die aber nie ein Be-
schauer so konzentriert und in so eindrucksvol-
len in sich geschlossenen Bildern erleben
könnte. Oder, ein drittes Beispiel, „La marche
des machines" von Eugene Deslav, — nichts wie
Aufnahmen von allen möglichen Maschinen in
Bewegung, aber eben sehr vollkommene Aufnah-
men aus überraschenden Aspekten und in einer
sehr überlegten, schön gegliederten, der Steige-
rungen keineswegs entbehrenden Abfolge, die
man sehr richtig als „episch" bezeichnet hat,
im Gegensatz zu einem ähnlichen Filme des
Russen Werthoff (den ich leider nicht gesehen
habe), der das gleiche Thema in dramatische
Spannungen übersetzt und damit das dämonische
Wesen der Maschine stärker zum Ausdruck
bringt. Im französischen Film wirkt das Ästhe-
tische der Maschine sehr stark — er ist sozu-
sagen ein sehr fesselnder Essay über die
Schönheit der Maschine, und daß so etwas im
Film möglich ist, während es bekanntlich bis
heute noch keine einzige wirklich das Wesen
treffende künstlerische Darstellung einer Ma-
schine gibt, das mögen diejenigen bedenken, die
immer noch daran zweifeln, daß das Filmerlebnis
sich auf Wirklichkeiten, nicht auf eine Welt
des ästhetischen Scheins bezieht, — mag auch
die Wirklichkeit durch die Kamera noch so sehr
neu geformt und umgestaltet sein. Im Grunde lie-
gen alle diese Filme auf der Linie des sogenann-
ten „Kulturfilms", nur daß sie mit größerer Über-
legung, mit höherer fotografischer Kunst und un-
ter reicherer Ausnutzung der in der Kamera ver-
borgenen Möglichkeiten aufgenommen wurden
und daher mehr „filmischen Stil" in sich haben.

Das gilt nun freilich nicht für den auf dem an-
deren Flügel der „Avantgarde" marschierenden
„abstrakten" Film. Denn hier steht ja keine
Wirklichkeit hinter den Bildern, sondern diese
selbst sind die einzige Wirklichkeit, die also in
wahrsten Sinne eine „ästhetische" ist. Daß nur
auf diesem Wege der Film zur wahren Kunstform
entwickelt werden kann, ist schon oft gesagt
worden, und es ist zwölf Jahre her, seit der
Schwede Eggeling die ersten derartigen Ver-
suche machte. Einer seiner Filme, die „Diagonal-
symphonie", wurde vorgeführt, ein heute ganz
primitiv wirkendes Stück, das sich noch auf
streng flächenhaft gezeichnete Formen be-
schränkt und die tatsächlichen filmischen Mög-
lichkeiten noch nicht berücksichtigt. Einige ab-
strakte Filme von Ruttmann gehen bereits weit
darüber hinaus, lassen die Formen im Raum und

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