Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929

DOI article:
Dessauer, Friedrich: Technik, Kultur, Kunst: Vortrag, gehalten von Professor Dr. Friedrich Dessauer auf der Jahresversammlung in Breslau, am 25. Juli 1929
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0563

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
TECHNIK-KULTUR-KUNST

Vortrag, gehalten von Professor Dr. Friedrich Dessauer
auf der Jahresversammlung in Breslau, am 25. Juli 1929

Sehr verehrte Anwesende!
Meine Damen und Herren!

Darf ich Sie einladen, im Geiste mit mir zu-
sammen eine Reise zu machen. Wir gehen auf
den Flughafen hinaus und steigen auf. Viele von
Ihnen haben das schon erlebt, andere, die es
noch erleben sollten, kennen es aus Beschrei-
bung. Die erste große Erschütterung, die den
Menschen dabei packt, ist die Wirklichkeit der
Loslösung vom Boden, das sichere Ruhen in der
Atmosphäre. Man lehnt sich auf den Sessel zu-
rück, und obwohl keine statische Stütze, keine
feste Verbindung zum Boden die Wirkung der
Schwerkraft aufhebt, ruht es sich ganz gelas-
sen. — Darunter dämmert die Erkenntnis, daß hier
dynamisches Geschehen statisches ersetzt. —

Wenn Sie dieses Eindrucks Herr geworden
sind, kommt ein anderer. Sie schauen, nun schon
einige Hundert Meter gestiegen, über die Land-
schaft, und es mag Ihnen auffallen, daß die Land-
schaft eigenartig gegliedert ist. Überall herrscht
die gerade Linie oder die leicht geschwungene
Kurve. Die Felder grenzen sich als geometri-
sche Gebilde klar voneinander ab, insbesondere
im beginnenden oder späten Herbst, wenn sie
vielfarbig nebeneinander stehen. Die Straßen
sind wie Kanäle, durch die Menschen fließen.
Die Eisenbahnlinien sind die glänzenden Linien
durch die Landschaft. Gradlinig zieht auch die
Waldschneise, in klaren Bögen die Landstraße.
Kurzum, solange wir über kultiviertes Land flie-
gen, herrscht die geometrische Figur und die
klare mathematische Linie, — Linien, die der
Mathematiker als leicht analysierbar bezeichnet.

Aber unser Flug geht weiter, immer weiter
nach Süden, und da beginnt eine Vertauschung.
Wir kommen zu den Bergen, zu den Alpen. Und
nun schwindet die klare Linie, nun ist nichts mehr
gegliedert, nichts mehr hebt sich in geometrisch
klaren Figuren voneinander ab. Fast nirgends
kann das Auge etwas erkennen, was etwa einem
symmetrischen Dreieck, einem Rechteck, einem
symmetrischen Polygon entspräche, oder einem
Kreise. Sondern der Boden ist chaotisch durch-
einander gewoben, in Form und Farbe.

Und dieses Erlebnis, sozusagen über zwei
Welten zu fliegen, — eine geometrisch klar ge-
gliedert und eine chaotisch ineinander verwo-
ben — hat einen tiefen Sinn. Wir sind in der
Tat über zwei Geisteswelten geflogen: Die
letzte, die chaotisch geformte, ist die W e 11 d e r
Kausalität, aber die erste, über der wir
schwebten, solange wir über Kulturboden flogen,
ist die final geordnete Welt.

Was heißt das?

Nun, in den Alpen, wo die Natur sich selbst
überlassen blieb, ist jeder Zustand einfach die
Konsequenz der waltenden Naturkräfte und der
vorangegangenen Zustände. Alles wird aus den
Ursachen, kausal, unentrinnbar: Sonnenschein
und Regen, Eis und Schnee und Wind und Wet-
ter bestimmen die Formen und nichts daran hat
Geometrie, nichts daran jene klare Gestaltung,
die der menschliche Geist, solange er lebt, sucht
und da, wo er kann, in die Dinge einfügt. Denn,
wo immer der Mensch lebt und angreift, sind die
Dinge nicht mehr kausal geordnet, nicht mehr
aus den voranschreitenden Ursachen heraus
geformt, sondern sie entstehen aus der Anschau-
ung der Z i e I e , sie sind demZielezu geglie-
dert. Und der finalen, zielschauenden Ordnung
entspricht die geometrische Linie, die mathema-
tische Form. Das können Sie überall finden.

Aber wir wollen den Gedanken unserer Reise
noch ein wenig weiter spinnen.

Wir könnten uns denken, statt unserer flöge
ein Weltgeist über die Erde, der aus irgend-
einem fernen Teil der Milchstraße vielleicht vor
2000 Jahren einmal über diesen Planeten ge-
flogen wäre und der nun wiederkäme. Was
würde der sagen? Er würde hinunterschauen auf
die Erdoberfläche und würde ausrufen: Wie hat
sich, seitdem ich das letztemal hier flog, das
Antlitz dieses Planeten verwandelt! Damals, vor
2000 Jahren, war es chaotisch, wie die Alpen
sind, und jetzt ist es überall in klare Linien und
Formen aufgeteilt! Und der kosmische Geist,
der die Erde wieder überfliegt, wird vielleicht
fragen: Kann solch eine Verwandlung des Erd-
antlitzes nur etwas Äußerliches sein? Oder was
ist wohl über diesen Planeten gekommen, daß er

479
 
Annotationen