Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929
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https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0049
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Riezler, Walter: Die atonale Welt
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Schwindens der gestaltenden Kräfte sein, — es
muß schon zusammenhängen mit der allgemeinen
Lage, mit dem Weltmoment, in dem wir eben
stehen. In dieser „atonalen Welt" ist der Glaube
an die Endgültigkeit der tonalen Harmonie, an die
Möglichkeit letzter Vollkommenheit der Harmo-
nie geschwunden, der klar dimensionierte Ton-
raum ist — nach dem Empfinden nicht aller, aber
doch einer nicht mehr zu übersehenden Gruppe,
zu der stärkste Talente gehören — zu eindeutig
geworden. Auch die Tonwelt verlangt nach einer
neuen Dimensionierung, die sie ungestümer in
den Strom des Geschehens reißt.
Es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, wollte
man in der atonalen Musik nichts wie eine Ver-
neinung sehen: noch nie ist aus der Verneinung
Kunst entstanden. Wohl sah es anfangs so aus,
als Debussy mit der Ganztonleiter zuerst ein
neues System einführen wollte. Was dann noch
übrigblieb, das war allerdings nichts anderes wie
ein extremer Impressionismus, für den es nichts
mehr gibt von der Welt wie farbige Reflexe, —
sehr reizvoll zwar, aber doch eben ohne Tiefe
und daher ohne die Möglichkeit einer dauernden
Wirkung. Es war wirklich so etwas wie ein sehr
geistreiches und kultiviertes „Kunstgewerbe",
reizvoll und raffiniert wie ein modernes Gewebe,
aber flächenhaft wie dieses und im Grunde doch
ohne den rechten Ernst. Was man aber heute
unter „atonaler Musik" versteht, das hat, soweit
es überhaupt ernst zu nehmen ist, d. h. aus einer
starken und ursprünglichen Begabung kommt,
wohl noch gelegentlich etwas „Kunstgewerb-
liches" an sich, geht aber in allem Wesentlichen
weit darüber hinaus: aus dem Gegeneinander der
melodisch und rhythmisch gleich ausdrucksvollen
Linien entsteht, wenn auch der klar dimensio-
nierte Tonraum fehlt, nicht etwa ein flächenhaft-
dekoratives Gewebe, sondern ein mit dynami-
schen Spannungen oft bis zum Bersten gelade-
nes Gebilde, das irgendwie in die Tiefe greift,
diese allerdings nicht erhellt, sondern im Gegen-
teil oft in einer Art von Mystik verdunkelt. Es
geht nicht wohl an, etwa bei Hindemiths „Marien-
leben" die mystische Versenkung, bei seinem
„Cardillac" die Verbundenheit mit den Blutströ-
men des Lebens zu leugnen. Und es gibt tief zu
denken, daß diese Musik, die vom Standpunkt
der Tonalität gesehen oft wie chaotisch wirkt —
ob ihren Zusammenklängen irgendwelche neuen
harmonischen Gesetze zugrunde liegen, wissen
wir noch nicht —, oft in die strengsten, mit größ-
ter Meisterschaft beherrschten Formen gebun-
den ist, die manchmal, etwa bei Strawinski, schon
fast wieder die Nähe eines neuen Klassizismus
ahnen läßt.
Es bedarf kaum des Hinweises auf die ver-
wandten Erscheinungen in der bildenden Kunst.
Auch hier wurde — schon etwas früher als
in der Musik — der klar dimensionierte Raum
der Renaissance verlassen, auch hier zuerst zu-
gunsten einer Flächigkeit, die hier noch leichter
in die Nähe des „Kunstgewerblichen" führen
mußte, dann aber, vor allem bei Kokoschka und
Beckmann, in der Richtung auf ein ganz neues
mit dynamischen Spannungen geladenes Raum-
gefühl. (Was Fritz Wiehert vor kurzem in der
„Form" über Beckmann geschrieben hat, berührt
sich aufs engste mit den Gedanken dieses Auf-
satzes.) Vor manchen Figuren von Archipenko
oder Gies kann man von „atonaler Plastik"
reden. Fast überall aber im „Expressionismus"
herrscht eine dynamische Gespanntheit, die die
klare Naturform unter Umständen zerstört, die
aber dabei nicht das Chaos an die Stelle der
Natur setzt, sondern in strenger Bildform neue
Ordnungen wenigstens zu verwirklichen sucht.
Nicht so klar sind die Beziehungen zur Bau-
kunst, — die ja scheinbar ihrer Natur nach
niemals auf den klar und fest dimensionierten
Raum verzichten kann. Und doch entspringt
auch hier die Tendenz zur Auflösung der festen
Bauform, die Abwendung von dem klar und ein-
deutig abgeschlossenen Innenraum, die Freude
an der Verwendung des Glases als stets nur
halbgültiger, halbklarer Wand ganz offenbar dem
gleichen Weltgefühl.
Freilich, in der bildenden Kunst scheint ja die
Welt des „Atonalen" bereits wieder verlassen
zu sein. Doch steht noch nicht fest, ob die Reak-
tion, die zweifellos eingetreten ist, als endgültig
angesehen werden muß und ob aus ihr überhaupt
Werke von größerer Bedeutung hervorgehen
werden. Sollte es der Fall sein, würde es noch
nicht das Ende der atonalen Periode bedeuten.
Denn Sombarts Satz von der „wachsenden Poly-
phonie des Wirtschaftslebens" gilt wohl auch
für die Kultur: ebenso wie die großen Werke der
Vergangenheit noch lebendig sind und meiner
festen Uberzeugung nach auch lebendig bleiben
werden, — so können auch heute noch aus der
Sehnsucht nach Klarheit und Harmonie Werke
entstehen, die der „tonalen" Welt anzugehören
scheinen. Freilich werden sie, uns vielleicht noch
nicht bewußt, irgendwo das Zeichen tragen, das
sie als Geschöpfe der Sehnsucht nach Verlore-
nem und damit als zu unserer Zeit gehörig verrät
Was aber morgen sein wird, — wann uns
wieder eine neue Ordnung, eine neue „Tonalität"
beschieden sein wird, — das weiß heute niemand.
W. Riezler
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muß schon zusammenhängen mit der allgemeinen
Lage, mit dem Weltmoment, in dem wir eben
stehen. In dieser „atonalen Welt" ist der Glaube
an die Endgültigkeit der tonalen Harmonie, an die
Möglichkeit letzter Vollkommenheit der Harmo-
nie geschwunden, der klar dimensionierte Ton-
raum ist — nach dem Empfinden nicht aller, aber
doch einer nicht mehr zu übersehenden Gruppe,
zu der stärkste Talente gehören — zu eindeutig
geworden. Auch die Tonwelt verlangt nach einer
neuen Dimensionierung, die sie ungestümer in
den Strom des Geschehens reißt.
Es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, wollte
man in der atonalen Musik nichts wie eine Ver-
neinung sehen: noch nie ist aus der Verneinung
Kunst entstanden. Wohl sah es anfangs so aus,
als Debussy mit der Ganztonleiter zuerst ein
neues System einführen wollte. Was dann noch
übrigblieb, das war allerdings nichts anderes wie
ein extremer Impressionismus, für den es nichts
mehr gibt von der Welt wie farbige Reflexe, —
sehr reizvoll zwar, aber doch eben ohne Tiefe
und daher ohne die Möglichkeit einer dauernden
Wirkung. Es war wirklich so etwas wie ein sehr
geistreiches und kultiviertes „Kunstgewerbe",
reizvoll und raffiniert wie ein modernes Gewebe,
aber flächenhaft wie dieses und im Grunde doch
ohne den rechten Ernst. Was man aber heute
unter „atonaler Musik" versteht, das hat, soweit
es überhaupt ernst zu nehmen ist, d. h. aus einer
starken und ursprünglichen Begabung kommt,
wohl noch gelegentlich etwas „Kunstgewerb-
liches" an sich, geht aber in allem Wesentlichen
weit darüber hinaus: aus dem Gegeneinander der
melodisch und rhythmisch gleich ausdrucksvollen
Linien entsteht, wenn auch der klar dimensio-
nierte Tonraum fehlt, nicht etwa ein flächenhaft-
dekoratives Gewebe, sondern ein mit dynami-
schen Spannungen oft bis zum Bersten gelade-
nes Gebilde, das irgendwie in die Tiefe greift,
diese allerdings nicht erhellt, sondern im Gegen-
teil oft in einer Art von Mystik verdunkelt. Es
geht nicht wohl an, etwa bei Hindemiths „Marien-
leben" die mystische Versenkung, bei seinem
„Cardillac" die Verbundenheit mit den Blutströ-
men des Lebens zu leugnen. Und es gibt tief zu
denken, daß diese Musik, die vom Standpunkt
der Tonalität gesehen oft wie chaotisch wirkt —
ob ihren Zusammenklängen irgendwelche neuen
harmonischen Gesetze zugrunde liegen, wissen
wir noch nicht —, oft in die strengsten, mit größ-
ter Meisterschaft beherrschten Formen gebun-
den ist, die manchmal, etwa bei Strawinski, schon
fast wieder die Nähe eines neuen Klassizismus
ahnen läßt.
Es bedarf kaum des Hinweises auf die ver-
wandten Erscheinungen in der bildenden Kunst.
Auch hier wurde — schon etwas früher als
in der Musik — der klar dimensionierte Raum
der Renaissance verlassen, auch hier zuerst zu-
gunsten einer Flächigkeit, die hier noch leichter
in die Nähe des „Kunstgewerblichen" führen
mußte, dann aber, vor allem bei Kokoschka und
Beckmann, in der Richtung auf ein ganz neues
mit dynamischen Spannungen geladenes Raum-
gefühl. (Was Fritz Wiehert vor kurzem in der
„Form" über Beckmann geschrieben hat, berührt
sich aufs engste mit den Gedanken dieses Auf-
satzes.) Vor manchen Figuren von Archipenko
oder Gies kann man von „atonaler Plastik"
reden. Fast überall aber im „Expressionismus"
herrscht eine dynamische Gespanntheit, die die
klare Naturform unter Umständen zerstört, die
aber dabei nicht das Chaos an die Stelle der
Natur setzt, sondern in strenger Bildform neue
Ordnungen wenigstens zu verwirklichen sucht.
Nicht so klar sind die Beziehungen zur Bau-
kunst, — die ja scheinbar ihrer Natur nach
niemals auf den klar und fest dimensionierten
Raum verzichten kann. Und doch entspringt
auch hier die Tendenz zur Auflösung der festen
Bauform, die Abwendung von dem klar und ein-
deutig abgeschlossenen Innenraum, die Freude
an der Verwendung des Glases als stets nur
halbgültiger, halbklarer Wand ganz offenbar dem
gleichen Weltgefühl.
Freilich, in der bildenden Kunst scheint ja die
Welt des „Atonalen" bereits wieder verlassen
zu sein. Doch steht noch nicht fest, ob die Reak-
tion, die zweifellos eingetreten ist, als endgültig
angesehen werden muß und ob aus ihr überhaupt
Werke von größerer Bedeutung hervorgehen
werden. Sollte es der Fall sein, würde es noch
nicht das Ende der atonalen Periode bedeuten.
Denn Sombarts Satz von der „wachsenden Poly-
phonie des Wirtschaftslebens" gilt wohl auch
für die Kultur: ebenso wie die großen Werke der
Vergangenheit noch lebendig sind und meiner
festen Uberzeugung nach auch lebendig bleiben
werden, — so können auch heute noch aus der
Sehnsucht nach Klarheit und Harmonie Werke
entstehen, die der „tonalen" Welt anzugehören
scheinen. Freilich werden sie, uns vielleicht noch
nicht bewußt, irgendwo das Zeichen tragen, das
sie als Geschöpfe der Sehnsucht nach Verlore-
nem und damit als zu unserer Zeit gehörig verrät
Was aber morgen sein wird, — wann uns
wieder eine neue Ordnung, eine neue „Tonalität"
beschieden sein wird, — das weiß heute niemand.
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