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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929

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Renner, Paul: Warum geben wir an Kunstschulen immer noch Schreibunterricht?
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https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0076

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während man nur die älteren als KUNST gelten
ließ.

Jede neue Technik bricht in den Bereich einer
älteren ein und macht ihr Platz und Rang strei-
tig. So hat wirklich der Buchdruck den Buch-
schreibern jede wirtschaftliche Existenz-Mög-
lichkeit genommen; aber mindestens ebenso oft
behauptet sich die ältere handwerkliche Technik
auch wirtschaftlich neben der neueren mechani-
schen. Der Film hat dem Schauspiel nicht lange
geschadet; das gute Theater blüht heute mehr
denn je. Auch Grammophon und Radio haben
den Musikern das Brod nicht genommen. Doch
wir wollen ja nicht von Wirtschaft sprechen. Uns
bewegt hier aufs tiefste die Frage, ob die älte-
ren Techniken veraltet sind, ob sie ihren SINN
verloren haben an die neuen? Und weiter: ob
sie sich der Ästhetik der neuen Techniken, den
Gesetzen der „Entpersönlichung" zu unterwer-
fen haben oder nicht?

Unsere Kunstschulen haben schöne Werkstät-
ten, in denen geschreinert, gebosselt, geschmie-
det und gewebt wird; man lernt auch mit Stahl-,
Rohr- und Kielfedern schreiben. Doch es sind
nicht die schlechtesten Schulen, in denen man
sich ernstlich fragt, ob man das alles mit gutem
Gewissen heute noch tun dürfe? Ob man damit
das qualvolle Ende eines schon beinahe verwe-
senden Kunstgewerbes nicht grausam verlän-
gere? Man möchte am liebsten nur Modelle
bauen, erfinden, konstruieren, Laboratoriums-
arbeit leisten für moderne Serien-Herstellung.

Meine Antwort auf diese Fragen ist vielleicht
nicht zeitgemäß; aber nur unzeitgemäße Wahr-
heiten werfen ihren Schein auf den Weg, der in
die neue Zeit führt. Ich denke: WEIL wir Buch-
druck, Film, Grammophon, Photographie und
jede mechanische Technik so lange nicht gemei-
stert haben, als wir in ihnen Kunst-ERSATZ, ER-
SATZ für Handschrift, Schauspiel, Gesang,
Zeichnung oder eine handwerkliche Technik
sahen; WEIL diese Techniken zu Künsten, das
heißt zu geistig bewältigten Techniken erst in
dem Maße wurden, als wir aufhörten, sie zur
„Reproduktion" zu gebrauchen; WEIL sie immer
geistiger, immer künstlerischer geworden sind,
je mehr sie sich von jedem Vorbild frei machten
und ihre eigengesetzliche Sphäre fanden, DES-
HALB glaube ich, daß die älteren Techniken
durch die neuen grundsätzlich NICHT ERSETZT
worden sind; sie sind oft brodlose Künste gewor-
den, aber sie haben auch in unserer Zeit noch
Bürgerrecht. Und weil jede NEUE Technik auto-
nom ist, und nur beherrscht werden kann, wenn
man ihre eigenen Gesetze findet und achtet, so
folgt daraus, daß wir an jeder ÄLTEREN hand-

werklichen Technik zum Stümper und Patzer
werden MÜSSEN, wenn wir sie fremden Ge-
setzen unterwerfen.

Wir dürfen der Beantwortung dieser Frage
nicht ausweichen, indem wir auf die Industrie
hinweisen, die ihre Lehrlinge handwerklich er-
zieht, etwa als Schlosser oder Schmiede, weil
überall dort, wo der Mensch zugreift, Handarbeit
verrichtet wird; wie ja auch die Kriegs- und Han-
delsmarine ihre Schiffsjungen und Seekadetten
auf Segelschiffen mit dem Element vertraut
macht, das sie bezwingen sollen. Industrie und
Schiffahrtsgesellschaften geben kein Geld für
einen romantischen Spleen aus; sie halten diese
Art der Ausbildung für rationeller. Das Beispiel
könnte uns auch nur bestimmen, die Schüler
das HALBE Handwerk zu lehren, das, was als
handwerkliche Technik den eigentlichen Stolz
des Fachmanns ausmacht, nicht aber das
GANZE, zu dem auch die GEISTIGE Beherr-
schung, die in Zeiten hoher Kultur selbstver-
ständliche, selbständige Formgebung gehört. Es
ist notwendig, daß wir uns einen Augenblick dar-
auf besinnen, wodurch diese Spaltung in die
Welt gekommen ist.

Der alte Handwerker, der immer zugleich auch
das war, was wir heute Künstler nennen, war
Erfinder und Ausführender in einer Person. Er
sah die Formen im Geiste vor sich, bevor er
sie mit der Hand bildete; das ist aber die glück-
lichste Bedingung für das Zustandekommen von
Formen, die auch wirklich im Geiste vorstellbar
sind. Und hier berühren wir das Geheimnis der
ARS UNA und ihrer MILLE SPEZIES. Jede
Kunstgattung hat ihre eigengesetzliche Sphäre.
Aber die Formen-Schönheit oder wenn man es
lieber hört, die künstlerische Qualität in allen
bildenden Künsten wendet sich nur an das Auge.
Es gibt keine doppelte Ästhetik: eine für Kunst-
werke und eine für die technische Form. Daß
Ästhetik die Lehre vom Schönen und die Lehre
von der WAHRNEHMUNG bedeutet, hat einen
tiefen Sinn. Wir wissen heute, daß Wahr-
nehmung nichts weniger ist als eine Summe von
Empfindungen, nichts weniger als ein mechani-
schow oder getreues Abbild der „Wirklichkeit".
Sondern jeder von uns erschafft sich schon als
Kind in seiner Phantasie Bilder von den Dingen
seiner Umwelt, und diese seine Phantasiegestal-
ten sieht er vor sich, wenn er „wahrnimmt".
Erst im Laufe eines langen Lebens korrigieren
wir die Bilder unserer Imagination mehr und
mehr und passen sie der „Wirklichkeit" an. Es
gibt kein probateres Mittel, diese visionäre Sicht-
barkeit zu zerstören und alle Phantasietätigkeit
für immer zu lähmen, als die vorzeitige Korrektur

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