Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929
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https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0438
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Riezler, Walter: "Form", Foto und Film
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Licht frei wachsen und geben damit ein sehr le-
bendiges filmisches Spiel. Aber es ist schwer,
auf die Dauer diesem Spiel, dessen Sinn ganz
allein in der Bewegung abstrakter Formen liegt,
aufmerksam zu folgen, man sucht nach einem
Halt für die Phantasie, — den man vielleicht in
der Musik fände, wenn diese mit dem Film in
einer organisch untrennbaren Verbindung stände.
Aber dann würde wahrscheinlich die Musik zum
eigentlichen künstlerischen Erlebnis, das nur
durch Sichtbares begleitet würde, — und jeden-
falls bliebe auch so der abstrakte Film ein äs-
thetischer Leckerbissen für einen ganz kleinen
Kreis von ausgesprochen künstlerisch eingestell-
ten Menschen und hätte daher für die allgemeine
Entwicklung des Films verhältnismäßig geringe
Bedeutung.
Zwischen diesen beiden Flügeln spielt sich
nun noch manches ab, was der Beachtung wert
ist, und zwar sind es bezeichnenderweise
hauptsächlich Versuche, jene beiden einander
scheinbar ausschließenden Filmstile zu mischen.
Man Ray stellt in einem „Cinemapoeme" ab-
strakte Formen und Wirklichkeiten, beide gleich
raffiniert fotografiert, neben- und übereinander,
in einem sehr reizvollen, erregenden Wechsel,
der durch keinerlei „Handlung", sondern höch-
stens durch den schwer wahrnehmbaren Rhyth-
mus des Ablaufs und durch gewisse formale Be-
ziehungen zwischen den beiden Welten begrün-
det ist. Es ist eine rein artistische Angelegen-
heit, und man empfindet die Stilmischung doch
nicht als organisch, sondern als ausgedacht,
wie überhaupt das Intellektualistische bei den
meisten dieser Versuche eine allzugroße Rolle
spielt. Dies gilt auch für eine andere „Dichtung"
Man Rays, „Etoile de mer", wo ein lyrisches Ge-
dicht in eine wiederum höchst raffinierte filmi-
sche Form übersetzt ist. Die ganz neuartige
Schönheit der Bilder ist unbestreitbar, aber die
Mittel sind bedenklich: ein Teil der Dichtung, die
Liebesgeschichte, ist mit Vorsatzlinse aufgenom-
men und dadurch „entmaterialisiert". Dadurch
entstehen Bilder, die fatal an die Malerei Car-
rieres erinnern: im Grunde ist es doch nichts
anders als der malerische Schwindel des Gummi-
drucks. Und wenn dann plötzlich dazwischen
wieder „scharfe" Aufnahmen erscheinen, so ist
der Kontrast etwas peinlich. — Ein andermal, in
der „psychoanalytischen Studie" (warum heißt
sie so?) „Die Muschel" von Germaine Dulac sind
seltsame, scheinbar zusammenhangslose ge-
spenstische Visionen in eine vom rein artisti-
schen Standpunkt aus höchst reizvolle Filmform
gefaßt, die aber auch wiederum zu problematisch
bleibt, als daß man an eine bleibende Wirkung
glauben könnte. Es ist merkwürdig, wie allen
diesen Filmen, die doch schließlich in die Welt
des artistischen „Spiels" gehören, jedes Ent-
spannende fehlt, wie sie im Gegenteil so an-
strengend zu sehen sind, daß einem nach einer
Stunde zumute ist, als ob man einen fünfstündi-
gen Theaterabend hinter sich hätte.
Auch der „Trick" wird zum Selbstzweck erho-
ben (der Gräff-Richtersche Versuch „Vormit-
tagsspuk"), aber man hat dabei das Gefühl, als
wäre auch dabei, wie beim rein abstrakten Film,
die Musik unentbehrlich. (Hindemith hat hierzu
eine Musik für mechanisches Klavier, das mit
dem Film zusammengekoppelt wird, geschrieben,
die leider nicht mit aufgeführt wurde.) Beson-
ders erwähnt werden müssen noch die beiden
Richterschen Filme „Inflation" und „Ariadne in
Hoppegarten", weil sie das erste Anzeichen da-
für sind, daß auch die Filmindustrie einsieht, daß
sie ohne die ernste Filmkunst nicht mehr aus-
kommt. Es sind sozusagen „Introduktionen" zu
Spielfilmen, und zwar wird von Richter jeweils
das Hauptmotiv der Handlung in eine echte
„Filmform" gebracht, mit Anwendung aller Mittel
der Kamera und des Kinos. So erleben wir das
eine Mal die Sensation „Rennen", das andere
Mal die Katastrophe der Inflation nicht einfach
als Handlung, sondern in einer Folge von echten
Filmbildern, — wobei es nur schade ist, daß, vor
allem bei „Ariadne in Hoppegarten", immer wieder
der Schauspieler dazwischen kommt und die
Filmwirklichkeit stört. Es entsteht dadurch eine
ähnliche Dissonanz, wie wir sie aus jenen herr-
lichen Naturfilmen kennen („Der Berg des
Schicksals" und ähnliche), wo zur Würze für den
Kinopöbel eine gespielte Handlung sich in die
Wirklichkeit der Natur hineindrängt.
Es war ein seltsamer Eindruck, diese so ver-
schiedenartigen Versuche rasch nacheinander zu
sehen. Überraschend war eines: mit ungeahn-
ter Deutlichkeit heben sich auch bei dieser neuen
„Kunst", die angeblich so ganz auf dem Boden
der modernen „Zivilisation" gewachsen ist, die
verschiedenen Nationalitäten voneinander ab.
Neben dem elementaren Russen steht der künst-
lerisch hochbegabte, aber von intellektualisti-
scher Artistik nicht freie Franzose, neben dem
etwas nüchternen, aber mit gesundem Sinn für
die Bedeutung der Wirklichkeit begabten Hollän-
der der sinnlich nicht so begabte, aber mit Pro-
blematik beladene und auch das Spiel noch ernst
nehmende Deutsche. Was hätte wohl der Ame-
rikaner hier beizutragen gehabt? Daß seine
Filme fast ganz fehlten, war kein Zufall, denn sie
gehören bis jetzt noch in eine andere Sphäre.
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bendiges filmisches Spiel. Aber es ist schwer,
auf die Dauer diesem Spiel, dessen Sinn ganz
allein in der Bewegung abstrakter Formen liegt,
aufmerksam zu folgen, man sucht nach einem
Halt für die Phantasie, — den man vielleicht in
der Musik fände, wenn diese mit dem Film in
einer organisch untrennbaren Verbindung stände.
Aber dann würde wahrscheinlich die Musik zum
eigentlichen künstlerischen Erlebnis, das nur
durch Sichtbares begleitet würde, — und jeden-
falls bliebe auch so der abstrakte Film ein äs-
thetischer Leckerbissen für einen ganz kleinen
Kreis von ausgesprochen künstlerisch eingestell-
ten Menschen und hätte daher für die allgemeine
Entwicklung des Films verhältnismäßig geringe
Bedeutung.
Zwischen diesen beiden Flügeln spielt sich
nun noch manches ab, was der Beachtung wert
ist, und zwar sind es bezeichnenderweise
hauptsächlich Versuche, jene beiden einander
scheinbar ausschließenden Filmstile zu mischen.
Man Ray stellt in einem „Cinemapoeme" ab-
strakte Formen und Wirklichkeiten, beide gleich
raffiniert fotografiert, neben- und übereinander,
in einem sehr reizvollen, erregenden Wechsel,
der durch keinerlei „Handlung", sondern höch-
stens durch den schwer wahrnehmbaren Rhyth-
mus des Ablaufs und durch gewisse formale Be-
ziehungen zwischen den beiden Welten begrün-
det ist. Es ist eine rein artistische Angelegen-
heit, und man empfindet die Stilmischung doch
nicht als organisch, sondern als ausgedacht,
wie überhaupt das Intellektualistische bei den
meisten dieser Versuche eine allzugroße Rolle
spielt. Dies gilt auch für eine andere „Dichtung"
Man Rays, „Etoile de mer", wo ein lyrisches Ge-
dicht in eine wiederum höchst raffinierte filmi-
sche Form übersetzt ist. Die ganz neuartige
Schönheit der Bilder ist unbestreitbar, aber die
Mittel sind bedenklich: ein Teil der Dichtung, die
Liebesgeschichte, ist mit Vorsatzlinse aufgenom-
men und dadurch „entmaterialisiert". Dadurch
entstehen Bilder, die fatal an die Malerei Car-
rieres erinnern: im Grunde ist es doch nichts
anders als der malerische Schwindel des Gummi-
drucks. Und wenn dann plötzlich dazwischen
wieder „scharfe" Aufnahmen erscheinen, so ist
der Kontrast etwas peinlich. — Ein andermal, in
der „psychoanalytischen Studie" (warum heißt
sie so?) „Die Muschel" von Germaine Dulac sind
seltsame, scheinbar zusammenhangslose ge-
spenstische Visionen in eine vom rein artisti-
schen Standpunkt aus höchst reizvolle Filmform
gefaßt, die aber auch wiederum zu problematisch
bleibt, als daß man an eine bleibende Wirkung
glauben könnte. Es ist merkwürdig, wie allen
diesen Filmen, die doch schließlich in die Welt
des artistischen „Spiels" gehören, jedes Ent-
spannende fehlt, wie sie im Gegenteil so an-
strengend zu sehen sind, daß einem nach einer
Stunde zumute ist, als ob man einen fünfstündi-
gen Theaterabend hinter sich hätte.
Auch der „Trick" wird zum Selbstzweck erho-
ben (der Gräff-Richtersche Versuch „Vormit-
tagsspuk"), aber man hat dabei das Gefühl, als
wäre auch dabei, wie beim rein abstrakten Film,
die Musik unentbehrlich. (Hindemith hat hierzu
eine Musik für mechanisches Klavier, das mit
dem Film zusammengekoppelt wird, geschrieben,
die leider nicht mit aufgeführt wurde.) Beson-
ders erwähnt werden müssen noch die beiden
Richterschen Filme „Inflation" und „Ariadne in
Hoppegarten", weil sie das erste Anzeichen da-
für sind, daß auch die Filmindustrie einsieht, daß
sie ohne die ernste Filmkunst nicht mehr aus-
kommt. Es sind sozusagen „Introduktionen" zu
Spielfilmen, und zwar wird von Richter jeweils
das Hauptmotiv der Handlung in eine echte
„Filmform" gebracht, mit Anwendung aller Mittel
der Kamera und des Kinos. So erleben wir das
eine Mal die Sensation „Rennen", das andere
Mal die Katastrophe der Inflation nicht einfach
als Handlung, sondern in einer Folge von echten
Filmbildern, — wobei es nur schade ist, daß, vor
allem bei „Ariadne in Hoppegarten", immer wieder
der Schauspieler dazwischen kommt und die
Filmwirklichkeit stört. Es entsteht dadurch eine
ähnliche Dissonanz, wie wir sie aus jenen herr-
lichen Naturfilmen kennen („Der Berg des
Schicksals" und ähnliche), wo zur Würze für den
Kinopöbel eine gespielte Handlung sich in die
Wirklichkeit der Natur hineindrängt.
Es war ein seltsamer Eindruck, diese so ver-
schiedenartigen Versuche rasch nacheinander zu
sehen. Überraschend war eines: mit ungeahn-
ter Deutlichkeit heben sich auch bei dieser neuen
„Kunst", die angeblich so ganz auf dem Boden
der modernen „Zivilisation" gewachsen ist, die
verschiedenen Nationalitäten voneinander ab.
Neben dem elementaren Russen steht der künst-
lerisch hochbegabte, aber von intellektualisti-
scher Artistik nicht freie Franzose, neben dem
etwas nüchternen, aber mit gesundem Sinn für
die Bedeutung der Wirklichkeit begabten Hollän-
der der sinnlich nicht so begabte, aber mit Pro-
blematik beladene und auch das Spiel noch ernst
nehmende Deutsche. Was hätte wohl der Ame-
rikaner hier beizutragen gehabt? Daß seine
Filme fast ganz fehlten, war kein Zufall, denn sie
gehören bis jetzt noch in eine andere Sphäre.
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